Eines kann man der Europäischen Kommission nicht vorwerfen: Im Streit über die Einführung der im Berliner Koalitionsvertrag 2013 vereinbarten Maut für Personenwagen hat sie nicht auf Konfrontation gesetzt. Schon der bis 2014 amtierende estnische Verkehrskommissar Siim Kallas hatte alles darangesetzt, eine einvernehmliche Lösung zu erreichen, die der - im Berliner Koalitionsvertrag angelegten - Quadratur des Kreises zumindest nahekommt. Im Koalitionsvertrag wurde auf Drängen der CSU nämlich folgendes Prinzip festgeschrieben: Halter von in Deutschland zugelassenen Autos werden nicht mehr Geld bezahlen als heute. Andererseits sollen die Ausländer, die seit jeher kostenfrei über deutsche Autobahnen fahren, künftig dafür bezahlen. Sie dürfen aber, folgt man Geist und Buchstaben der EU-Verträge, nicht schlechter behandelt werden als die Inländer.
So heißt es in Artikel 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), dass "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten" ist.
Die damaligen Überlegungen des estnischen Kommissars, Berlin eine goldene Brücke zu bauen und die in Deutschland geplante Senkung der Kraftfahrzeugsteuer von der schon damals auf 130 Euro pro Jahr bezifferten Mautgebühr zu entkoppeln, verliefen im Sande. Kallas konnte und wollte es nicht hinnehmen, dass es, wie von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) damals angedacht, zwei getrennte Gesetze geben sollte: eines mit dem Ziel, über eine "Infrastrukturangabe" alle in- und ausländischen Autofahrer zur Kasse zu bitten, und ein zweites, um die nur von Deutschen gezahlte Kfz-Steuer exakt um den Mautbetrag zu verringern. "Es kann nicht sein, dass ein inländischer Autofahrer die Maut über die Steuer automatisch zurückerstattet bekommt", sagte Kallas damals. Änderungen der Kfz-Besteuerung liegen indes in der Hand der Mitgliedstaaten. Deutschland darf also sein Steuersystem frei gestalten - das erkannte die Kommission damals ausdrücklich an.
Dennoch schoben sich Berlin und Brüssel fortan fleißig gegenseitig die Verantwortung für das Ausbleiben eines Kompromisses zu, so dass der Kommission als EU-Vertragshüterin letztlich kein anderer Ausweg blieb, als ein Vertragsverletzungsverfahren zu eröffnen und schließlich - Ende September - die Klage gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof einzureichen. Dennoch hatte die Kommission auch zu diesem Zeitpunkt klargestellt, dass der Streit nicht zwangsläufig durch Europas oberste Richter entschieden werden müsse. "Wir werden weiter in engem Kontakt mit den deutschen Behörden bleiben, damit eine einvernehmliche Lösung gefunden werden kann", hatte damals eine Sprecherin der Kommission gesagt. Es war unklar, ob dies lediglich ein weiterer Schachzug im jahrelangen Mautstreit oder tatsächlich ernst gemeint war.
Dass es durchaus ernst gemeint war, zeigte sich am Donnerstagabend, als die "Bild"-Zeitung in ihrer Internet-Ausgabe von einer "Maut-Sensation" berichtete und titelte: "Brüssel gibt überraschend grünes Licht". Und, offenbar ganz im Sinne des deutschen Verkehrsministers, hieß es zudem: "Für deutsche Autofahrer bleibt es dabei, dass keine Mehrkosten entstehen. Die Maut wird mit der Kfz-Steuer verrechnet." Sollte also tatsächlich eine Lösung gefunden worden sein, wonach Ausländer einseitig belastet werden sollen und die Regelung dennoch Geist und Buchstaben der EU-Verträge entspricht?
Die offizielle Sprachregelung in Brüssel und Berlin lautet jetzt, dass die Gespräche auf gutem Wege seien und es noch im November zu einer Einigung kommen solle. Dobrindt verriet, dass sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker persönlich stark dafür engagiert habe, einen Ausweg zu finden. Zumindest dem Vorsitzenden des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament, Michael Cramer (Grüne), drängte sich der Eindruck auf, dass die eigentlich für das Maut-Dossier zuständige Verkehrskommissarin Violeta Bulc umgangen worden sei - was die Kommission am Freitag energisch bestritt. Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger war offenbar nicht in die Angelegenheit eingeweiht, die für das Verhältnis zwischen Berlin und Brüssel extrem heikel ist. Er hatte in seiner umstrittenen Rede in der vergangenen Woche in Hamburg noch von der "komischen Maut" gesprochen, "die nicht kommen wird". Dass das EU-Verbot einer Schlechterstellung von Ausländern durchaus Spielräume eröffnet, hatte die Kommission bereits im Mai 2012 dargelegt. Damals veröffentlichte sie Leitlinien für Mautgebühren mit dem Ziel: "Fairness für alle Fahrer gewährleisten". Demnach können Mautgebühren das Ergebnis haben, dass der Preis für Ausländer - umgerechnet auf die pro Tag zu entrichtende Gebühr - zwischen dem 2,5- und 8,2-Fachen des Betrags liegen kann, den ein Mitgliedstaat von Einheimischen verlangt. Dem tragen die Pläne Rechnung, neben der bis zu 130 Euro teuren und an den Schadstoffausstoß gekoppelten Jahresmaut auch entsprechend günstigere Kurzzeitvignetten anzubieten. Auch in Österreich zahlen Ausländer in der Regel mehr als "Einheimische" - allerdings hat die Europäische Kommission gegenüber Wien darauf bestanden, dass die Einführung des "Pickerls" mit einer - wenn auch begrenzten - Mehrbelastung einhergehen muss.
EU-Verkehrspolitiker wie der Grünen-Europaabgeordnete Cramer sprechen jetzt von einer "Niederlage Dobrindts", der wegen der geplanten steuerlichen Bevorzugung schadstoffarmer Autos das gegebene Versprechen, keinen Inländer stärker zu belasten, nicht einlösen könne. Es sei zudem "unökologisch und unsozial", wenn eine Vignette gleichviel koste - unabhängig davon, ob ein Fahrzeug jährlich 10 000 oder 200 000 Kilometer zurücklege. Positiv ist für Cramer, dass sich nicht nur die Kommission, sondern auch Berlin für das Ziel einer streckenabhängigen - und daher fairen - Straßenbenutzungsgebühr ausgesprochen hat. Dass es zunächst darum gehe, Ausländer im Widerspruch zu EU-Recht weiter zu diskriminieren, steht für Cramer außer Frage. "Fahrer aus anderen EU-Staaten werden weiter einseitig benachteiligt, weil sie von keiner Steuererleichterung profitieren."
Auch der verkehrspolitische Sprecher der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Ismael Ertug (SPD), ist sich sicher: "Die CSU wird mit ihrem Mautvorhaben, nur Ausländer zu belasten, grandios scheitern." Der ostbelgische christlich-demokratische EU-Parlamentarier Pascal Arimont warnte, die Kommission werde durch "solche Tricksereien" das verlorengegangene öffentliche Vertrauen nicht zurückgewinnen. Die Vertragshüter dürften Vorschriften, die insbesondere auf das Geld von EU-Ausländern zielten, nicht durchgehen lassen. "Die Kommission muss durch den Gang vor den Europäischen Gerichtshof weiterhin deutlich machen, dass die deutschen Pläne zur Einführung einer Maut für Ausländer diskriminierend sind", forderte der belgische Politiker.