Der neue Hauptbahnhof an der Spree wird am Freitag eingeweiht. Manche Kritik an dem kolossalen Bau ist ungerecht
Peter Neumann
BERLIN. Eigentlich gibt sich Ingulf Leuschel hanseatisch zurückhaltend, schließlich wuchs er bei Hamburg auf. Doch wenn der Konzernbevollmächtigte der Deutschen Bahn (DB) über die aggressive Geringschätzung spricht, die viele Berliner dem neuen Hauptbahnhof im Zentrum der Stadt angedeihen lassen, kann er auch mal unwirsch werden. "Woanders freut man sich schon über neue Rolltreppen. Hier werden zehn Milliarden Euro in die Bahn investiert, worum uns viele andere Städte beneiden. Doch die Berliner sind skeptisch. Und sie jammern, dass am Zoo ab 28. Mai kein Fernzug mehr hält."
Ein Monsterbauwerk
In der Tat: Der Glaspalast an der Spree, in dem am Sonntag mit dem 0.29-Uhr-Zug nach Eberswalde der Betrieb beginnt, wird mit Kritik überhäuft. Lange bevor 1998 der Grundstein gelegt wurde, sprach Uli Hellweg von der Stadterneuerungsgesellschaft Stern bereits von einem "Monsterbahnhof". Der Berliner Architekt Helmut Maier sah sogar den Chef der DDR-Staatssicherheit am Werk: "Ein zentraler Hauptbahnhof ist eine Erfindung von Mielke. So etwas gibt es in keiner Millionenstadt der Welt." Da wirkt Michael Cramer, Europa-Abgeordneter der Grünen, fast schon höflich, wenn er im Bahn-Ausbau die "Berliner Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex" vermutet.
Ganz falsch liegt der Grüne Cramer nicht, zumindest, was den Größenwahn anbelangt. Die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts skizzierten Ideen für einen zentralen Bahnhof wurden nach dem Mauerfall konkret - als selbst zurückhaltende Politiker glaubten, dass Berlin von 3,5 Millionen auf sechs Millionen Einwohner wachsen wird. Darum durften die Planer um Meinhard von Gerkan eine so selbstbewusste Inszenierung des Verkehrsmittels Eisenbahn entwerfen, wie es sie in Berlin bisher nicht gegeben hat - wenn man vom zerstörten Anhalter Bahnhof absieht, dessen 60,7 Meter breite Halle viel ausladender war als die Prachtallee Unter den Linden.
Ungefähr dort, wo 1959 die Reste des Lehrter Bahnhofs gesprengt wurden, durchschneidet eine lang gestreckte Halle zwei Hochhäuser, die mit ihren 46 Metern zehn Meter höher als das Kanzleramt sind. Zwischen den "Bügelbauten", die mangels Interessenten von der Bahn bezogen werden, weist eine weitere Halle unter einem 210 Meter langen Dach nach Moabit und in das Regierungsviertel - wie ein Stadttor.
"Dieser Bahnhof hat die größte Photovoltaikanlage Europas", ruft Projektleiter Hany Azer. 1 200 Lautsprecher! 203 Videokameras! Sechs Panorama-Aufzüge! Azer, 1950 in Ägypten geboren, freut sich auch an Details. "Fühlen Sie mal: Damit sich Sehbehinderte zurechtfinden, stehen auf den Treppenhandläufen Angaben in Blindenschrift." Schon während des Baus konnte die Bahn mit Zahlen prahlen. Um die neun bis 25 Meter tiefen, zehn Hektar großen Baugruben auszuheben, wurden 1,5 Millionen Kubikmeter Boden verschifft.
Wäre die Menge auf der Straße befördert worden - die Lkw-Schlange hätte bis zur französischen Atlantikküste gereicht. Eine halbe Million Kubikmeter Beton ist verarbeitet; genug für 65 Kilometer Autobahn.
Doch bald merkten die Verantwortlichen, dass ihnen die Superlative über den Kopf wuchsen. Anfangs sollte der Bahnhof 350 Millionen Euro kosten, die zuletzt genannten 700 Millionen Euro werden inzwischen weder bestätigt noch dementiert. Weil die Arbeiten auf dem mit Munitionsresten, Grundwasser und Steinen durchsetzten Gelände oft nur langsam vorangingen, verschob die DB den Eröffnungstermin öfter. Davon, dass der Betrieb im Jahr 2000 beginnt, war schon bald nicht mehr die Rede. 2001 zeichnete sich ab, dass sich das Projekt bis 2008 oder 2009 hinziehen könnte. Schuld daran war das lange Genehmigungsverfahren und der komplizierte Bau des Daches über der Stadtbahn. Vorstandschef Hartmut Mehdorn war außer sich und entschied, dass der Wetterschutz über den drei Ost-West-Bahnsteigen kürzer wird: statt 430 nur 321 Meter. Weil Stahlteile neu geplant und gebaut werden mussten, stiegen die Kosten. Doch Mehdorns Dekret, dass der Hauptbahnhof unter allen Umständen vor der Fußball-WM 2006 betriebsfähig sein muss, ließ sich nur so befolgen.
Die DB verzichtete auch auf das parkettähnliche Laminat, mit dem von Gerkan das Wohlbefinden der Fahrgäste erhöhen wollte. Dann ließ sie heimlich die Decke der 450 Meter langen unterirdischen Bahnsteighalle vereinfachen, aus Kostengründen. Anstelle von Gerkans Gewölbe, das an eine Kathedrale erinnerte, entstand eine schnöde Flachdecke - für den wütenden Architekten das "Widerlichste vom Widerlichen". Vor dem Landgericht klagt er darauf, dass die Bahn seinen Entwurf verwirklicht. Am 28. November wird erneut verhandelt. Ob von Gerkan zur Eröffnung seines Bahnhofs kommt, ist unklar.
Aber auch der Berliner Senat steht nicht ruhmreich da. Erst 2009 kann die Straßenbahn am Bahnhof halten - die M 10 nach Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Die U-Bahn rollt schon Ende 2006, aber nur zum Brandenburger Tor. Die wichtigere S-Bahn-Verbindung zum Nordring geht frühestens 2012 in Betrieb.
So mutet der Solitär an der Spree in vielem wie ein Torso an. Aber manche Kritik ist ungerecht. Mitnichten konzentriert die DB Berlins Bahnverkehr im Hauptbahnhof. Zwar wird der Bahnhof Zoo degradiert, verliert der Ostbahnhof viele Verbindungen. Doch dafür öffnen am Südkreuz und am Gesundbrunnen neue Fernbahnstationen, halten in Spandau mehr ICE-Züge als heute - was die DB-Prognose, dass täglich rund 300 000 Menschen den Hauptbahnhof nutzen, als fraglich erscheinen lässt. Sicher erhebt sich der zentrale Bahnhof in einer Brache. Das hat aber auch sein Gutes. Wer aus dem Tor in die Sonne heraustritt, fühlt sich nicht durch Rotlichtviertel wie in Frankfurt bedrängt, sondern kann den Blick frei schweifen lassen. Er erlebt ein großartiges Panorama und eine Weite, die signalisiert: Alles auf Anfang.
"Glaspalast mit Wüste": Michael Cramers Beitrag über den neuen Berliner Hauptbahnhof in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 21.05.2006