Schulterblick und du siehst mich

26. Mai 2017 zur Übersicht

Anlässlich des Evangelischen Kirchentages 2017 wurde ich gebeten auf dem Berliner Gendarmenmarkt eine Predigt zu halten.

Gehalten habe ich die Predigt am 27. Mai 2017

Liebe Gemeinde,

liebe Fahrradfreundinnen und Fahrradfreunde

Zunächst möchte ich mich recht herzlich bei Pfarrer Alexander Brodt-Zabka bedanken, der mich eingeladen hat, auf dem Evangelischen Kirchentag hier in Berlin eine „Predigt“ halten zu dürfen. Ich muss gestehen: Obwohl ich in einem protestantischen Elternhaus groß geworden bin, hätte ich mir das auch in meinen kühnsten Träumen nicht - weder bei meinen Kirchenbesuchen noch bei meiner Mitwirkung im Posaunenchor - vorstellen können.


Meine Großväter waren nicht nur Presbyter der evangelischen Kirche, sie waren auch Mitglieder der Bekennenden Kirche, die sich – anders als die Deutschen Christen – dem Nationalsozialismus entgegengestellt hatten. Deshalb sollten sie noch als über 50-jährige an die Front geschickt werden. Nur das Ende des Zweiten Weltkriegs rettete ihnen das Leben.


Sie kämpften aber auch gegen den aufkommenden Antisemitismus, der ja nicht erst nach 1933 zum Alltag gehörte. Deshalb gaben sie ihren Kindern jüdische Namen, die als Rahel, Samuel, Hanna und Tabea getauft wurden. Denn die Leitlinie ihres Lebens stand unter dem Bibelvers, den ich auch für diese Predigt gewählt habe: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ (3. Mose 19,18).


Das galt für meine Großväter gegenüber ihren jüdischen Mitmenschen, das gilt aber auch heute für die vielen Flüchtlinge. Das gilt für alle Menschen unabhängig von ihrer Religion, Herkunft oder Sprache. Deshalb: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.


Und das gilt natürlich auch für das Verhalten der Menschen im alltäglichen Verkehr. Da frage ich mich nämlich häufig: Wo ist dort die Liebe geblieben?


Da wird gern schnell geschimpft und geflucht, weil man sich im Recht sieht, denn Schuld sind immer nur die anderen. Mit der christlichen Nächstenliebe ist es im Verkehr oft schnell vorbei. Fast immer hat der andere den Fehler begangen.


Dann sehe ich hier dieses weiße Geisterfahrrad - ein Mahnmal für mehr Achtsamkeit - und überlege, was ändert es an der Situation, wer Recht hatte und wer nicht? Ein Menschenleben ist von einem Moment auf den nächsten beendet worden.


Dieses Mahnmal sollte uns allen verdeutlichen, dass wir einen anderen Weg finden müssen, wie wir miteinander verkehren. Wir sollten nicht auf Teufel-komm-raus auf unserem Recht bestehen – denn das „Recht“ hat bei einem Unfall der Stärkere. Welche Konsequenzen das haben kann, sehen wir hier an diesem Geisterfahrrad.


„Wer bremst, verliert?“ Das glaube ich nicht. Ist es nicht ein gutes Gefühl, wenn wir lieber mal bremsen oder stehen bleiben? Den anderen in die Spur einzureihen oder für Fußgänger und Kinder zu bremsen?
Ich freue mich, dass heute so viele Menschen zusammengekommen sind. Mit dem Motto „Schulterblick – und du siehst mich!“ wollen wir alle Verkehrsteilnehmer für mehr Vorsicht motivieren.


Unser gemeinsames Ziel kann nur sein, dass wir im Verkehr gemeinsam aufeinander Rücksicht nehmen und nicht gegeneinander. Das Recht des Stärkeren oder Rechthaben ist im Verkehr das eine, die Folgen das andere. Und wer bei einem Unfall verliert, sind die Schwächeren, die Radfahrenden, die zu Fuß Gehenden. Ob sie nun Recht hatten oder nicht, ist im Schadensfall zweitrangig, wenn die Betroffenen verletzt werden oder ihr Leben verlieren.


Deshalb: Wir müssen weg von der Diskussion Autofahrer gegen Radfahrer, Radfahrer gegen Fußgänger und Fußgänger gegen Radfahrer. Auch im Verkehr muss der Leitgedanke sein: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“!


Nie werde ich vergessen, dass 2004 eine Mutter auf dem Kaiserdamm mit ihrem vor ihr fahrenden Sohn auf dem Gehweg-Radweg über eine grüne Ampel fährt – und mit ansehen muss, wie ihr eigenes Kind vor ihren Augen von einem rechtsabbiegenden LKW getötet wird. Es musste erst diesen tragischen Unfall geben, damit die Politik begreift, wie entscheidend die Sichtbeziehung ist. Man fühlt sich auf einem Gehweg-Radweg zwar sicherer - aber die Gefahr ist erheblich größer wegen der mangelnden Sichtbeziehung. Seitdem werden in Berlin die Fahrradstreifen nicht mehr neben den parkenden Autos auf dem Gehweg, sondern mit guter Sichtbeziehung auf der Straße markiert. Zudem werden seitdem neue LKWs auch mit besseren Spiegeln ausgestattet- und ich fordere auch, dass die alten schnellstmöglich nachgerüstet werden.


Mehr Rücksicht muss das Motto sein: über die Schulter blicken und schauen, was geschieht links und rechts von mir. Wenn ich sehe, da wird gleich jemand meinen Weg kreuzen, nicht laut hupen oder klingeln, sondern langsamer fahren, bremsen und auf den Anderen Acht geben.


Für Jugendliche und Kinder ist der Straßenverkehr die Todesursache Nummer 1. Wir alle wollen diese traurige Statistik ändern. Ich glaube fest an die „Vision Zero“ - also keine Toten mehr durch Verkehrsunfälle. Aber ohne eine Veränderung unseres Verhaltens werden wir das nicht schaffen.
Denn nur miteinander gelingt uns die „Vision Zero“. Mal innehalten, den anderen vorbeilassen, auch wenn man selbst Vorfahrt hat. Gerade die Stärkeren im Verkehr können damit viele schwere Verletzungen und tödliche Folgen vermeiden.


Am einfachsten ist es mit geringerer Geschwindigkeit zu machen. Denn bei einem Zusammenprall mit einem schwächeren Verkehrsteilnehmer liegt die Wahrscheinlichkeit, bei Tempo 50 getötet zu werden, bei 80%, bei Tempo 30 nur bei 10%.


Auch deshalb hat das Europäische Parlament nachdrücklich gefordert, in den Städten Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen – wobei es natürlich auch weiterhin Tempo 50-Straßen geben wird. Auf der Heerstraße will niemand Tempo 30 einführen. Die Kosten würden verringert, der Lärm halbiert und die Akzeptanz erhöht. Diesem Beschluss haben alle deutschen Abgeordneten zugestimmt, auch die Mitglieder von CDU, CSU und FDP.


Die durchschnittliche Geschwindigkeit liegt in Berlin heute bei 18 Stundenkilometern – bei Tempo 30 wäre sie kaum langsamer.


Ein schöner Nebeneffekt wären weniger Schadstoffemissionen und somit bessere Luft. Zudem ist der Verkehr für ein Viertel der klimaschädlichen Emissionen verantwortlich und der einzige Sektor, in dem sie seit 1990 gestiegen sind. Wenn wir das Ziel des Pariser Welt-Klimagipfels 2015 erreichen und die Schöpfung, die uns geschenkt ist, bewahren wollen, müssen wir unsere Mobilität verändern!


Wir müssen JETZT verantwortungsvoll unseren Alltag gestalten. Nur dann können unsere Kinder und deren Kinder auf diesem Planeten noch leben. Denn wir haben diese Welt nur von unseren Kindern geborgt.


Da in den Städten der Verkehr für dreiviertel aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich ist, müssen wir es schaffen, dass mehr Menschen mit dem Fahrrad fahren und die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen. In deutschen Städten sind 90% aller Autofahrten kürzer als 6 Kilometer - das ist doch eine machbare Distanz, um das Auto stehen zu lassen. Amsterdam, Münster und Kopenhagen zeigen uns, dass es geht. Aus New York City wurde auf dem Broadway New Walk City. All das zeigt: Es ist möglich, wenn der politische und gesellschaftliche Wille da ist.


Und Fahrradfahren macht auch Spaß - vor allem, wenn man entspannt fahren kann und als Verkehrsteilnehmer respektiert wird. Fahrradfahrende leben 5 Jahre länger und sind dreimal weniger krank als Nicht-Radelnde. Länder und Städte, in denen das Radfahren boomt, schaffen eine Win-win-win-Situation: Sie schützen das Klima und die Umwelt, fördern die Gesundheit und steigern die Lebensfreude.


Auch deshalb: „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst.“ Wir sollten immer wieder über die Schulter blicken und schauen, was am Rande unserer Strecke passiert. Dann können wir reagieren, abbremsen und umsichtig sein. Vor- und Rücksicht wird uns vielleicht nicht immer schneller machen, aber uns dafür sicher an unser Ziel bringen.


Wir wollen die Schöpfung bewahren, Menschenleben schützen, die Mobilität sichern und den Klimawandel stoppen. Das geht aber nur, wenn wir verinnerlichen: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“.


Michael Cramer,
Mitglied des Europäischen Parlamentes (MdEP)