Der Verkehr in der Europäischen Union ist zu billig, nur der umweltfreundliche ist zu teuer – und all das ist politisch gewollt! Das hat dazu geführt, dass der Verkehrssektor mittlerweile für 30% aller Treibhausgas-Emissionen der EU verantwortlich ist. Das ist schlimm, doch noch schlimmer ist: Während seit 1990 die CO2-Emissionen in der Industrie um 34%, in der Energie-Erzeugung um 17% und bei den Haushalten um 14% gesenkt werden konnten, sind sie im Verkehrssektor im gleichen Zeitraum um 29% gestiegen. Der Verkehr frisst also doppelt und dreifach all das auf, was in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde.
Ein Umlenken in Richtung Nachhaltigkeit scheitert im Kern nicht daran, dass die umweltfreundlichen Verkehrsträger nicht wettbewerbsfähig sind, sondern dass es eine ganze Reihe von Wettbewerbsverzerrungen zu deren Lasten und damit zu Lasten der Umwelt und der Steuerzahler gibt. So werden die Airlines zum Beispiel durch die Befreiung von der Kerosin- und auf internationalen Strecken von der Mehrwertsteuer jedes Jahr vom europäischen Steuerzahler mit 30 Milliarden Euro subventioniert. Die Bahn hingegen wird zur Kasse gebeten, obwohl die CO2 -Emissionen in der Stratosphäre drei bis viermal so klimaschädlich sind wie am Boden.
Man stelle sich einmal vor: Nur 10 Jahre lang bekämen die europäischen Bahnen jedes Jahr 30 Mrd. Euro. Wir hätten ein hervorragendes Eisenbahnnetz zu günstigen Fahrpreisen, und der umweltschädliche Flugverkehr - und damit auch die Lärm- und Schadstoffemissionen - wären mindestens um die Hälfte reduziert.
Aber auch im Wettbewerb zwischen Straße und Schiene existieren massive Wettbewerbsverzerrungen. So ist EU-weit vorgeschrieben, dass für jede Lokomotive auf jedem Streckenkilometer eine in der Höhe nicht gedeckelte Schienenmaut erhoben werden muss. Die Erhebung einer Straßenmaut hingegen ist eine freiwillige Entscheidung der Mitgliedstaaten, die in der Höhe begrenzt wird und meist nur auf Autobahnen und für LKW ab 12 t Anwendung findet.
Diese Rahmenbedingungen fördern die Verlagerung des Verkehrs - nur in die falsche Richtung. Wie man es richtig macht, zeigt uns die Schweiz. Dort gibt es mit der "Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe" (LSVA) seit Jahren eine Straßenmaut, die fast viermal so hoch ist wie in Deutschland und auf allen Straßen und für alle LKW ab 3,5 t gilt. In der Schweiz gibt es - anders als in Deutschland - keine Verlagerung von großen auf kleine LKW oder von Autobahnen auf Bundes- und Landesstraßen. Und die Kosten für die Konsumenten sind lediglich um 0,5% gestiegen. Billiger kann man Umweltschutz nicht bekommen.
Die Europäische Union muss also dringend faire Bedingungen im intermodalen Wettbewerb herstellen. Dies kann nur durch die Erreichung von Kostenwahrheit und durch die vollständige Internalisierung der externen Kosten gelingen. In seinem Bericht zum Weißbuch Verkehr hat das Europäische Parlament Ende 2011 die Kommission aufgefordert, bis 2014 konkrete Gesetzgebungsvorschläge zur Erreichung dieses Ziels vorzulegen.
Aber nicht nur diese Rahmenbedingungen machen es dem umweltfreundlichen Schienenverkehr schwer. Auch der historische Ballast und die nationalistische Denkweise vieler Eisenbahnunternehmen behindern den Schienenverkehr, der in Europa durch 25 nationale Sicherheitsbehörden reglementiert wird. Unterschiedliche nationale Zulassungs- und Sicherheitsvorschriften behindern den grenzüberschreitenden Verkehr, gleichzeitig existieren national unterschiedliche Leit- und Sicherungs-, sowie Energieversorgungssysteme.Zwar gibt es in der EU das Prinzip der "Cross Acceptance". Danach darf jede Lokomotive, die in einem Mitgliedstaat zugelassen ist, grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten fahren. Es sei denn, eine andere Sicherheitsbehörde legt innerhalb von 6 Monaten begründeten Einspruch ein. Doch obwohl diese Regelung schon 2009 beschlossen wurde, sind wir von einer Realisierung noch Lichtjahre entfernt!
Der Zugang zur Schieneninfrastruktur und zu Nebenanlagen, wie etwa Rangierbahnhöfen, unterliegt meist noch den nationalen Infrastrukturbetreibern, die ihrerseits nicht selten mit dem jeweils führenden Eisenbahnverkehrsunternehmen eng verbunden sind. Der Zugang zu dieser Infrastruktur ist je nach Betreiber unterschiedlich geregelt. Auch die Trassenpreise, die ein Eisenbahnunternehmen an den Infrastrukturbetreiber zu entrichten hat, sind auf vielfältige Weise strukturiert und nicht gedeckelt. So finanzieren z.B. nicht etwa die Fahrgäste im ICE den als Fernverkehrshalt aufwändig gebauten neuen Hauptbahnhof in Berlin, dessen Kosten sich von geplanten 700 Mio. DM auf eine Milliarde Euro verdreifacht haben. Es sind vielmehr die Fahrgäste der S- und Regional-Bahnen, die dort in kurzen Abständen halten und den Löwenanteil der Stationsentgelte aufbringen. Und die Trassenpreise werden noch immer primär von den staatlichen Eisenbahnunternehmen festgelegt, deren Entwicklung für die privaten Mitbewerber kaum prognostizierbar ist.
Die Nutzung der Straße hingegen ist für jedermann transparent geregelt und europaweit harmonisiert. Ein LKW kann von Tallinn mit demselben Fahrer problemlos nach Lissabon gesteuert werden, ohne dass es eines größeren administrativen Aufwandes bedarf. Bei der Schiene muss auf dieser Relation wegen der unterschiedlichen Spurweiten zweimal der Zug gewechselt werden. Aber auch ohne dieses Hindernis ist diese Realität noch ein langer, langer Traum!
Zu den technischen und administrativen Problemen gibt es in vielen Mitgliedstaaten auch einen Konflikt zwischen dem Personen- und dem Güterverkehr, wobei die Personenzüge in Deutschland meist Vorrang haben. Weil die Infrastruktur hauptsächlich für den schnellen Personenverkehr ausgebaut und der Güterverkehr vernachlässigt wurde, liegt die Durchschnittsgeschwindigkeit eines LKWs im Fernverkehr in Deutschland bei ca. 65 km/h, die eines intermodalen Güterzuges hingegen nur bei etwa 36 km/h.
Wie fehlgeleitet die Investitionen waren, zeigt sich auch daran: Seit der Bahnreform 1994 wurden in Deutschland etwa 40 Mrd. Euro in den Fernverkehr investiert. Die Passagierzahlen sind aber um 20% zurückgegangen. Im stiefmütterlich behandelten Nah- und Regional-Verkehr sind sie jedoch um 50% gestiegen. Und dem Güterverkehr ging und geht es nicht anders.
So wird z.B. in Stuttgart für mehr als 7 Mrd. Euro ein Bahnhof in den Untergrund verlegt und eine Neubaustrecke nach Ulm gebaut. Die existierende Trasse ist wegen der Geislinger Steige für den Güterverkehr nicht geeignet. Die Neubaustrecke kostet etwa 3 Mrd. Euro, ist aber ebenfalls zu steil für den Güterverkehr. Und im Personenverkehr spielt diese Strecke nur eine geringe Rolle, weil in Stuttgart etwa 70% der Fahrgäste ein- und aussteigen. Auch wegen der nur geringen Trassenpreis-Entgelte wird sich diese Strecke niemals rentieren.
Ganz anders sieht die Lage im wichtigsten EU-Güterverkehrskorridor von Rotterdam nach Genua aus. Dort gibt es den Vertrag von Lugano, in dem sich 1996 die Nachbarländer zum Ausbau dieses Korridors verpflichtet haben. Die Schweiz hat den Lötschbergtunnel schon 2007 fertig gestellt, der Gotthard-Tunnel ist schon durchstochen worden und geht 2016 in Betrieb. In Deutschland gibt es für den viergleisigen Ausbau der Rheinschiene zwischen Karlsruhe und Basel noch nicht einmal ein vollständiges Baurecht und in Offenburg weigern sich Bundesregierung und DB AG, für den Güterverkehr einen Tunnel durch die Stadt zu bauen. Stattdessen planen sie dort11 Meter hohe Lärmschutzwände - die Mauer in Berlin hatte eine Höhe von 3,60 Meter - und wundern sich über den Widerstand der Bevölkerung.
Aber selbst dort, wo das Baurecht vorhanden ist, wird nicht gearbeitet. Für dieses Jahr sind im Bundeshaushalt für den 4 Mrd. Euro teuren Ausbau der Rheinschiene gerade einmal 19 Mio. Euro eingestellt. Wird dieses Budget fortgeschrieben, brauchen wir etwa 200 Jahre, bis der Korridorabschnitt Karlsruhe-Basel fertig ist.
Obwohl schon 2001 mit dem Ersten Eisenbahnpaket die Weichen für den sogenannten Einheitlichen Europäischen Eisenbahnraum richtig gestellt wurden, gibt es ihn noch nicht. Denn die Erfahrungen zeigen, dass viele Eisenbahnunternehmen die letzten nationalistischen Körperschaften sind, denen es schwer fällt, über die Grenzen ihres jeweiligen Landes hinauszuschauen. Vielfach reicht der Blick noch nicht einmal bis zur Landesgrenze.
Mit der aktuell laufenden Überarbeitung des Ersten Eisenbahnpakets, dem sogenannten "Recast", wollen Rat, Parlament und Kommission sicherstellen, dass der EU-weite Zugang zur gesamten Schieneninfrastruktur, einschließlich der Nebenanlagen, problemlos gewährleistet wird und eine unabhängige, schnell entscheidende und gut ausgestattete Regulierungsbehörde jegliche Diskriminierung verhindert. Zudem müssen die in die Infrastruktur geflossenen Finanzmittel auch dort verbleiben und dürfen nicht für den Aufkauf unliebsamer Wettbewerber oder Straßengütertransportunternehmen verwendet werden. Notwendig ist auch eine bessere Zusammenarbeit der nationalen Sicherheits- und Zulassungsbehörden mit der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA), um die Zulassungs- und Sicherheitsvorschriften weiter zu harmonisieren. Klar ist dabei, dass bestimmte Aufgaben von der nationalen auf die europäische Ebene übertragen werden müssen, um unnötige Doppelarbeit zu vermeiden und chaotische Zustände zu verhindern.
Ziel der Infrastrukturbetreiber muss sein, soviel Eisenbahnverkehr wie möglich auf dem Netz fahren zu lassen. Diesem Ziel müssen sich die jeweiligen Wünsche unterordnen. Bei erhöhtem Angebot müssen die Infrastrukturmanager entscheiden, an welchen Stellen durch Ausbau oder durch bessere Planung die Wünsche befriedigt werden können.
Die sechs Güterverkehrskorridore, auf die sich die Mitgliedstaaten der EU schon 2010 geeinigt hatten, müssen nicht nur in Worten, sondern auch in Taten die oberste Priorität bekommen und gerade dort das europäische Zugsicherungs- und Signalsystem vorangetrieben werden. Dabei müssen insbesondere die grenzüberschreitenden Abschnitte Vorrang bekommen. Denn das Eisenbahnnetz in der EU ist auch 20 Jahre nach dem Startschuss für die Transeuropäischen Verkehrsnetze (TEN-T) noch immer ein Flickenteppich. Und die Lücken befinden sich gerade dort, wo Grenzen sind. Das steht im eklatanten Widerspruch zu dem erklärten Ziel der europäischen Verkehrspolitik, die Grenzen zu überwinden.
Der Verkehr in der EU muss - wo immer möglich - vermieden, von umweltschädlichen auf umweltfreundliche Verkehrsträger verlagert und auf allen Ebenen die Effizienz verbessert werden. In der Infrastruktur sollten statt extrem teurer und zeitaufwändiger Großprojekte lieber die zahlreichen kleinen und effizienteren Maßnahmen mit echtem verkehrspolitischen und europäischem Mehrwert umgesetzt werden. "Act clever" ist besser als "think big"! Wenn all das gelingt, können wir in Zukunft nicht nur die Mobilität sichern, sondern auch den Klimawandel stoppen, damit für unsere Kinder und deren Kinder ein gesundes Leben auf diesem Planeten auch weiterhin möglich sein wird.
Michael Cramer, 21. März 2012