Protokoll einer Zeitreise

02. Oktober 2016 zur Übersicht

Artikel von Ulli Kulke erschienen in "Welt am Sonntag" am 2.10.2016

Die längste Sehenswürdigkeit der Hauptstadt erfordert Kondition - der Mauerweg misst 160 Kilometer und führt Radler einmal um das ehemalige West-Berlin herum

 

Der Geheimcode für die Nacht- und Nebelaktion lautete "Operation Gold". Ein spektakulärer Coup der Geheimdienste der Alliierten sollte es werden, damals, in den 50er-Jahren. Vier Meter tief und 450 Meter weit wühlten sich im äußersten Südosten des damaligen West-Berlins die Maulwürfe der amerikanischen CIA und des britischen Secret Intelligence Service unter das Gebiet Ost-Berlins, um Telefonleitungen der sowjetischen Streitkräfte anzuzapfen. Im Osten war man durch Doppelagenten von Anfang an bestens informiert, ließ aber die westlichen Dienste eine Weile gewähren, um zu schauen, was die so im Schilde führten.

Dieser Tunnel und seine Entdeckung ist nur eine von zahllosen spektakulären Begebenheiten, die sich an der Grenze West-Berlins zum Ostteil der Stadt und zur DDR bis zum Mauerfall 1989 abspielten. An dem hermetisch abgeriegelten Streifen rings um die "Frontstadt" des Westens oder, wie andere es sahen, den "Pfahl im Fleisch des Sozialismus", spielte sich die deutsch-deutsche Geschichte in ihrer besonderen Tragik und Absurdität ab: Spionage und Flucht, Todesschüsse und geheime Türen. Man kann die Stätten dieser bizarren, zum großen Teil menschenverachtenden Ereignisse sogar abfahren - und zwar mit dem Rad. Der "Berliner Mauerweg" führt rings um das alte West-Berlin. 2001 wurde er vom Berliner Abgeordnetenhaus beschlossen, seit zehn Jahren ist er durchgängig befahrbar. Er verläuft zumeist auf den Zollwegen im Westen sowie den Kolonnenwegen, die die DDR-Grenztruppen einst für ihre Kontrollfahrten nutzten. Vorbei an den letzten verbliebenen Wachtürmen, an Museen und Gedenkstätten, mitten durch das Stadtzentrum.

Auf insgesamt 160 Kilometer Streckenlänge wird man über zumeist rennradtauglichen Asphalt auch thematisch bestens geleitet. Dazu tragen mehr als 40 mehrsprachige Infostelen bei, die mit Fotos und Texten über die Teilung Deutschlands, den Bau und den Fall der Berliner Mauer informieren. Immer auf den Wegen, auf denen damals die östlichen oder westlichen Grenzsoldaten ihre Patrouillen absolvierten. 5000 Menschen schafften es dort zwischen 1961 und 1989, die Grenze zu überwinden. 128 wurden bei dem Versuch erschossen, knapp einer pro Mauerkilometer. An 29 Standorten entlang des Weges wird an die Toten an der Berliner Mauer erinnert.

Was das Radfahren angeht, so bietet der Mauerweg Radlern aller "Klassen" etwas. Man kann sich eine Woche Zeit lassen oder auch nur drei, vier Tage. Denn der Berliner Mauerweg ist in 14 Einzelstrecken gegliedert. Sie sind zwischen sieben und 21 Kilometer lang. Anfangs- und Endpunkt aller Etappen kann man einfach mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichen. Sportliche Radfahrer können die 160 Kilometer auch an einem Tag "abreißen", auch wenn in dem Fall kaum Zeit für den eigentlichen Geschichtspfad bleiben dürfte. Nennenswerte Steigungen sind so gut wie nicht zu überwinden. Wer den Mauerweg im Uhrzeigersinn von der Stadtmitte aus befährt, findet die eindrucksvollsten und informativsten - allerdings auch bekanntesten - Orte kurz nach dem Start und kurz vor dem Ziel. Zunächst das Mauermuseum unmittelbar am Checkpoint Charlie, in dem Devotionalien der abenteuerlichsten Fluchten zu besichtigen sind: DDR-Bürger versuchten, mit Seilbahn, Flugdrachen oder Heißluftballon, durch Tunnel, im Motorraum von Autos, mit dem U-Boot Marke Eigenbau und auf ähnlich abenteuerliche Weise in den Westen zu gelangen.

Gegen Ende stößt man dann auf die Mauergedenkstätte an der Bernauer Straße, wo 1961 die Bauflucht der Vorderhäuser die Grenze markierte. Tagelang ließen sich deshalb hier auch aus den oberen Stockwerken der im Osten gelegenen Häuser Menschen in die Sprungtücher der West-Berliner Feuerwehr fallen, bis die Fenster zugemauert und schließlich die Gebäude von der DDR abgerissen wurden. Heute wird dort auf mehreren Hundert Metern offenen Geländes der Mauertoten gedacht, es sind die Fundamente der dort insgesamt zehn Fluchttunnel nachgezeichnet, ein "Fenster des Gedenkens" und ein "Eiserner Vorhang" aus vier Meter hohen rostigen Stahlstangen laden zum Nachdenken ein. Viele Auseinandersetzungen gab es um die Konzeption der Gedenkstätte, die deshalb mehrfach neu gestaltet wurde.

15 Jahre ist es jetzt her, dass der grüne Europaparlamentarier und Fahrradaktivist Michael Cramer in der Berliner Politik offene Ohren fand für dieses Projekt. Heute zieht er eine positive Bilanz. Auch der Mauerradweg hat nach seinen Beobachtungen einen deutlichen Anteil am immer populärer werdenden deutschen Rad-Tourismus. "Dabei war es anfangs gar nicht so einfach", sagt er, "bei der CDU fanden wir für das Projekt zwar offene Ohren, die SPD dagegen wollte alle Mauerspuren lieber beseitigen." Jetzt ärgert er sich darüber, dass in dem rot-rot regierten Brandenburg, auf dessen Territorium der Weg streckenweise verläuft, öffentliche Grundstücke an Investoren verkauft werden, sodass der Mauerradweg dort zum Teil weit umgeleitet werden muss. "Wir fordern deshalb, den Radweg unter Denkmalschutz zu stellen, dann wäre das nicht mehr möglich."

Fahrrad- und gleichermaßen geschichtsbegeisterte Berlin-Besucher hätten viel zu verlieren, wenn der Mauerradweg nach und nach lückenhaft würde. Die plakativen Grenzorte wie Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor oder East Side Gallery (mit 101 Bildern am längsten verbliebenen Mauerrest) kennt quasi jeder. Ansonsten ist die frühere Grenze nur noch schwer auszumachen. In der Innenstadt ist der frühere Verlauf der Mauer immerhin durch eine Spur von Pflastersteinen und Metallplatten im Boden gekennzeichnet.

Dabei hat es auch die Geschichte von Orten weitab vom Zentrum in sich, wie zum Beispiel der einstigen West-Berliner Exklave Steinstücken am südwestlichen Ende der Stadt. Wenn schon West-Berlin durch seine Insellage ein besonderes Lebensgefühl vermittelte, so galt genau das für die 150 Bewohner dieses 300 Hektar großen Fleckens um so stärker - einen guten Kilometer außerhalb der Stadt liegend, durch einen eigenen Mauerring abgeschnitten, die Insel vor der Insel. Wer nach Steinstücken wollte, musste bei der Volkspolizei klingeln und sich für den "Transitweg" durchsuchen lassen. Für vier Tage wurde es sogar einmal von DDR-Truppen besetzt, Washington machte Druck in Moskau, und der Spuk war beendet. Als unmittelbar nach dem Mauerbau Steinstücken noch nicht abgeriegelt war, flog die U.S. Army Flüchtlinge per Hubschrauber aus. 1971, im Zuge der Ostpolitik Willy Brandts, bekam Steinstücken eine rechts und links von vier Meter hohen Mauern gesäumte Zufahrt. Die isolierte Ruhe war beendet und die West-Berliner durften zum ersten Mal das Unikum mit den schönen Bürgerhäusern bestaunen - alles nachzulesen an Ort und Stelle.

Ein paar Kilometer weiter dann das Gegenstück: Klein Glienicke, eine nur durch eine marode Brücke mit dem Osten verbundene Exklave der DDR, damals fast komplett umgeben vom Westen. Für das Grenzregime der Stasi war es eine besondere Herausforderung: Jeder Bewohner war ein potenzieller Republikflüchtling, sodass dort nachts die Streifen durch die Gärten der Gründerzeitvillen zogen, um zu prüfen, ob alle Leitern vorschriftsmäßig angekettet und abgeschlossen waren. Nur wenige Meter weiter steigt jeder Mauer-Radler ab, um sich beim Anblick der Glienicker Brücke zwischen Potsdam und dem Westberliner Ortsteil Wannsee ein bisschen im Agententhrill zu ergehen. Tauschten doch an dieser Stelle - weitab vom Stadtzentrum und durch die Lage am Wasser vor neugierigen Blicken abgeschirmt - die USA und die Sowjetunion ihre gefassten Spione aus.

Berlin-Besucher wähnen sich, wenn sie ins Grüne fahren, oft schon im brandenburgischen Umland, auch wenn sie das einstige West-Berlin noch längst nicht verlassen haben. Der Verlauf des Mauerweges führt dem Radfahrer vor Augen, was für riesige Waldgebiete und großartige Gewässer bis 1989 den West-Berlinern für Ausflüge zur Verfügung standen - "jwd", wie der Berliner abkürzt für "janz weit draußen". Doch auch wenn die Strecke im Westen und Norden weit ab von Besiedlungen durch märkische Landschaften verläuft, so holt den Radfahrer auch dort die Geschichte in kurzen Abständen immer wieder ein. Verlockten damals doch gerade die Grenzverläufe im Grünen DDR-Bürger zur Flucht, weil sie vermeintlich weniger scharf beobachtet waren. Oft war dies ein fataler Trugschluss, wie die vielen Stelen an den Spandauer, Tegeler und Frohnauer Abschnitten über gescheiterte und tödliche Fluchten dokumentieren.