Gleich wird man die falsche Abzweigung nehmen im Wald. Wird sich verfahren in diesem engen, düsteren Tal mit dem kleinen Bach und dann so steil nach oben treten müssen, dass es für das Etappenziel an diesem Abend nicht mehr reicht. Nur gut, dass das jetzt nicht zu ahnen ist, sonst hätte man den jungen Wanderer auf der Bank links liegen gelassen. Der Schweiß klebt einem die Finger an den Lenker, der Handrücken schmeckt salzig – und Denny Hausig sitzt ganz entspannt da, den Rucksack neben sich gelehnt. Er lächelt, und er erzählt. Dass er in Hirschberg gestartet und auf dem Weg an die Ostsee ist. Zu Fuß, mit Zelt, viele hundert Kilometer. Einige Blasen hat er sich schon gelaufen, der Regen hat ihn ein paar Mal durchnässt in der vergangenen Woche, aber jetzt scheint die Sonne, und er hat heute nur noch die paar Kilometer vor sich bis Probstzella. Also Zeit für eine Pause auf dem ehemaligen Todesstreifen.
Die frühere innerdeutsche Grenze ist der Vergangenheit längst entwachsen, hat sich entwickelt zu einem grünen Band, und auf diesem will der junge Mann aus Brandenburg wandern. Einfach so. 22 Jahre alt ist er, geboren als DDR-Kind, aber fünf Wochen später ist die Mauer gefallen. Seine Ausbildung zum Landschaftsgärtner hat er gerade abgeschlossen, und ehe er in den Beruf startet, will er noch mal etwas erleben, etwas Besonderes. Die Natur und auch die Einsamkeit.
Das tut jeder Reisende hier, denn wo einst Grenzsoldaten patrouillierten, ist heute – fast nichts mehr. Und so fährt auch der Radfahrer durch Dörfer und Städtchen, die nicht gerade pulsieren. Der Europa-Radweg „Eiserner Vorhang“ dürfte die längste und die geschichtsträchtigste Veloroute des Kontinents sein. Sie beginnt an der Barentssee und führt bis ans Schwarze Meer. Michael Cramer, der Europaabgeordnete der Grünen aus Berlin, hat die Tour zusammengestellt und drei Radreiseführer dazu verfasst, außerdem noch einen zum Mauer-Weg rund um die Hauptstadt. Man bräuchte Monate, um alles abzuradeln,
Flach ist die Strecke nicht. Das spüren selbst Radler, die die Anstiege der Alpen kennen
aber, immerhin, einen kleinen Eindruck bekommt man auch in der Mitte Deutschlands. In der Grenzregion von Hessen und Bayern, Thüringen und Sachsen, auf der Strecke zwischen Point Alpha und Mödlareuth. In vier Tagen ist sie zu schaffen, aber nur, wenn man zwischendurch in den Zug steigt. Flach ist anderswo. Selbst wer die Anstiege der Alpen gewöhnt ist, sollte sich nicht zu leichtfertig entspannt nach Hünfeld aufmachen. In das hessische Städtchen fährt die Bahn, was praktisch ist, aber wer keinen der raren Rad-Stellplätze im Intercity ergattert, braucht etwa von München aus sieben Stunden, viermal Umsteigen inklusive.
Es regnet. Da ist der Bahnhof in Hünfeld erst recht ein bedrückender Ort, das Wasser stürzt vom kaputten Bahnsteigdach die Treppe hinab. Und dann ist da unten, in einer fleckigen Ecke, dieses Schild. „Gedenke der Toten. Am 21. November 1944 starben in dieser Bahnsteigunterführung durch Bombenangriffe 61 Menschen.“ So beginnt sie, die Reise durch die deutsche Vergangenheit.
Hoch über dem Städtchen Geisa ist ein Ort, für den man sich nicht schämen muss, im Gegenteil. Point Alpha heißt er, von hier haben die Amerikaner jahrzehntelang das Fulda Gap überwacht. Jene Stelle, an der die Nato mit einem Vorstoß des Warschauer Paktes gerechnet hat im Falle des Falles, weil hier ein Zipfel DDR weit nach Westen ragte. Von hier wäre es nicht weit gewesen in die Zentren des Südens. Das erklärt Henning Pietzsch, während er durch die kleine Ausstellung führt im „Haus auf der Grenze“. Dort haben sie auf wenigen Quadratmetern DDR-Militärfahrzeuge drapiert, einen Grenzzaun aufgebaut und einen Selbstschussapparat drangehängt. Bald wollen sie die Ausstellung neu konzipieren, moderner gestalten. Der alte Kolonnenweg führt mitten durch das Gebäude, und die paar hundert Meter bis zum ehemaligen US-Camp verläuft ein Weg, der gesäumt ist von Zäunen und Barrikaden, eine Wachhund-Attrappe hängt an der Leine. Das alles ist rekonstruiert, aber der Wachturm ist noch original, er dient einem Mobilfunkanbieter als Handymast. Recycelte Geschichte an einem Ort mit wunderbarer Aussicht auf das Hessische Kegelspiel, die Vulkankuppen der Rhön.
Dass Point Alpha erhalten blieb, ist bürgerschaftlichem Engagement zu verdanken. Nachdem das Camp jahrelang als Unterkunft für Asylbewerber genutzt worden war, sollte es eigentlich abgerissen werden. Entstanden ist stattdessen eine Stiftung samt Akademie, die Seminare und Fortbildungen veranstaltet, zum Gestern und zur Zukunft. Henning Pietzsch ist erst vor ein paar Monaten von Berlin nach Geisa gekommen, an eine verschwundene Grenze, die sein Leben prägte. 1988 hat er sie überschritten, ganz legal. Jahrelang war er davor in der Kirchenbewegung aktiv gewesen, in Jena, er hat gekämpft für ein bisschen Demokratie in seiner Heimat, aber irgendwann ging es eher rückwärts als vorwärts, das Land war gelähmt. Er hat einen Ausreiseantrag gestellt, schweren Herzens, und sie haben ihn tatsächlich bald gehen lassen. Im Jahr darauf war dann alles offen.
In Geisa kommt das Radl neben dem alten Schloss in einer Wäschekammer unter
Jetzt hat er sein Büro unten in Geisa, im ehemaligen Schloss. Im alten Kern des Städtchens stehen Läden leer, sie haben hier wie überall zu kämpfen entlang der ehemaligen Zonengrenze, wo sich die Orte rausgeputzt haben, aber auffällig leblos wirken. Neben dem Schloss, im alten Amtsgericht, ist das Gästehaus der Point-Alpha-Akademie, vorzüglich restauriert und so neu, dass sie noch gar keinen Fahrradschuppen haben. Macht nichts, das Personal ist hilfsbereit und bittet, das Velo in die Stuhl- und Wäschekammer neben der Rezeption zu schieben. So vornehm kann Improvisation sein.
Tags darauf verlieren sich die runden Rhönberge im Weiß der Wolken. Noch führt die Route gemütlich auf einer ehemaligen Bahntrasse – bis 1952 verkehrten Züge durchs Ulstertal. Mystisch wirkt die Landschaft und so rätselhaft wie diese Grenze heute, mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten betrachtet. War da mal etwas? Kaum vorstellbar. Den Übergang von Hessen nach Thüringen erkennt man zunächst nur am Straßenbelag, weil er im Osten oft noch sehr neu ist. Ein großes Schild weist auf die unsichtbare Sehenswürdigkeit hin: „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 8. Dezember 1989 um 14 Uhr geteilt.“
Die Tafeln und Gedenkstellen entlang der Route fügen sich zu einem Mosaik deutsch-deutscher Geschichte. Da sind die geschleiften Höfe und Dörfer entlang der Grenze: der Fischerhof bei Borsch zum Beispiel (1954 niedergerissen) oder Langwinden (1972 ausgelöscht, Bewohner umgesiedelt). Da ist das Schicksal des westdeut-schen Grenzers Gerd Palzer, der 1952 zwischen Willmars und Stedtlingen von Ost-Grenzern erschossen wurde. Da ist Leutnant Rolf Molter, dem 1984 bei Spechtsbrunn die Flucht nach Bayern gelang. Am Rand von Heinersdorf steht noch ein Stück Mauer und eine 1980 errichtete Sperre im Leutenbach. Am Rennsteig, dem berühmten Thüringer Wanderweg, findet sich auf einer Tafel eine Warnung der Landrätin aus der Gegenwart: „Leider kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich trotz Räumung noch einzelne Minen im ehemaligen Grenzbereich befinden.“
Hinter Hilders ist Schluss mit gemütlich. Dem ersten heftigen Anstieg werden viele weitere folgen. Hat sich bis ins deutsche Mittelgebirge noch nicht herumgesprochen, dass man Straßen und Wege auch in Serpentinen bauen kann? Sie bevorzugen hier den direkten Weg, rauf, runter. Macht Spaß, macht Muskeln, muss man aber mögen. Und selbst wer mag, darf mal fluchen, am Abend, nach 80 Kilometern Rhön-Radeln und zwei Stunden Bahnfahrt. Dabei war doch klar, dass ein Gasthaus, das „Zur Hohen Sonne“ heißt und in Sonneberg zu finden ist, weit oben liegen muss. Und so geht es, während die Sonne untergeht, vom Bahnhof aus hinauf, kilometerweit, mit gefühlten 15 Prozent Steigung. Oben angekommen, schaut der Wirt mit großen Augen. Was? Abendessen? Um diese Zeit noch? Es ist neun. Seine Frau erbarmt sich dann doch und wirft den Herd an. Am Nebentisch sitzen Kartenspieler, der Wirt schaut ihnen zu. Es sind seine einzigen Gäste, sie wohnen hier oben.
Beim Frühstück erzählen Roswitha und Joachim Schmeiduch, die Wirtsleute, dass nichts mehr los sei bei ihnen im Lokal. Seit 30 Jahren haben sie das Haus. Was war das früher für ein Leben hier! In der Vorzeit, als die Bayern im kleinen Grenzverkehr rübergekommen sind und für 2,80 Mark Schnitzel bestellt haben, und auch die Klöße von Frau Schmeiduch gingen weg wie nix.
40 Kilometer Umweg haben die Gäste aus dem Westen in Kauf genommen, Grenzübergänge gab es ja nicht viele, und 1990 „haben sie uns überrannt“. Eine D-Mark ließ sich in zehn DDR-Mark verwandeln, die Ost-Schnitzel waren die billigsten der Welt. Doch dann kam die Westmark, und die Westdeutschen sind woanders hingefahren, die Ostdeutschen sowieso. So wurde es Jahr für Jahr magerer, erzählen die beiden und kommen ins Hadern. Freiheit, okay, aber gut ist nicht alles in der neuen Zeit. Herr Schmeiduch macht inzwischen selber Holz, um das teure Gas zu sparen. Ein Stammtisch nur ist ihm geblieben, es sind die Kartenspieler. „Wir kommen gerade so über die Runden.“
Es hupt. Ein Lieferwagen stoppt, öffnet seine Klappe, „Land- und Bauernbrot“ steht auf dem Wagen. Ein paar Minuten später fährt er weiter. Mobil muss sein, wer entlang der innerdeutschen Narbe überleben will mit seinem Geschäft. Das gilt für Bäcker und Metzger, sogar Haltestellen für den mobilen Friseur gibt es.
Grenz-Radler kommen an Michael Cra-mers Bikeline-Büchern mit ihren insgesamt 665 Seiten kaum vorbei. Der Autor weist auf unzählige historische Orte am Streckenrand hin, traurige, deutsche Orte sind es teils, wie die Gedenkstätte Laura, östlich von Ludwigsstadt. Laura war ein Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald, es ist eine schlichte Gedenkstätte, würdig gestaltet, eine Erinnerung auch daran, dass die DDR nicht aus dem Nichts entstanden ist.
Cramers Route durch die Mitte Deutschlands ist alles andere als überlaufen, sie ist wie geschaffen für Genießer der Einsamkeit. Eine durchgängige Beschilderung würde man ihr und den Radlern wünschen, aber so etwas ist aufwendig, dauert und kostet vor allem. Die Route wechselt ständig von Ost nach West und zurück, meist auf Radwegen oder kleinen, ruhigen Straßen. Führt der Weg in den Wald, ist Vorsicht geboten, so genau sind die Karten nicht: Wenn keine Wegweiser vorhanden sind oder zu viele eher Verwirrung stiften und dazu keine ortskundigen Menschen vorbeikommen, die der ratlose Radler fragen könnte, hilft nur Ausprobieren. Und die Flexibilität, spontan ein neues Quartier zu suchen, wenn der Versuch ins Nichts führt, und der Abend naht.
Der löchrige Kolonnenweg schadet den Reifen, zum Fahren bleibt nur ein Grünstreifen
Wie interessant Verirrungen sein können, sieht man in Lehesten, einer sehr grauen Stadt. Man tritt den Bewohnern damit nicht zu nah, denn Lehesten ist ein altes Bergbaustädtchen, sie haben „blaues Gold“ in Europas größtem Schiefertagebau gewonnen, und mit Schiefer haben sie auch ihre Häuser verkleidet. Der Bodenschatz kann aber auch recht grau, fast schwarz schimmern, er verbreitete eine ganz eigene Atmosphäre. Im Schieferpark, dem 1999 stillgelegten Staatsbruch-Gelände, kann man inmitten historischer Anlagen in einem Hotel übernachten.
Auf dem berüchtigten Kolonnenweg selbst verläuft Cramers Route nur selten – und das ist auch gut so. Die Lochplatten sind ungenießbar für Radler, die Löcher wären schnell das Ende der Reifen. Zum Fahren bleibt nur der schmale Grünstreifen zwischen den Platten. Beim Aussichtsturm Thüringer Warte darf man sie dann doch noch über ein, zwei Kilometer ausprobieren. Danke, das reicht!
„Es reicht!“, sagen auch die meisten Be-wohner von Mödlareuth. 52 Einwohner hat das Dorf, 33 auf der Thüringer Seite, 19 auf der bayerischen. Mit der Mauer hatten sie sich irgendwie abgefunden, auch wenn sie direkt durch ihr Dorf führte. Das Dorf war Ziel von Grenzlandfahrten, und West-Politiker reisten an, um ganz fotogen auf den Wahnsinn des Ostens zu zeigen. Heute ist Mödlareuth ein Museumsdorf, in das Jahr für Jahr bis zu 80?000 Touristen aus aller Welt kommen. Mit all dem haben sie sich arrangiert in Mödlareuth. Aber nicht mit den Journalisten.
„Im Dorf sagt kein Mensch mehr was.“ Karin Mergner sagt das, wohnhaft auf der bayerischen Seite, und erzählt dann doch etwas, als eine der letzten. Dass diese Journalisten manchmal allzu frech seien, nach der Grenzöffnung habe ein japanisches TV-Team gar in einem Haus im Ostteil einen Kühlschrank aufgemacht und reingefilmt. Dass diese Reporter immer nur schwarz oder weiß beschreiben wollten, und in Mödlareuth bevorzugt das Schwarze, das sei ihre Erfahrung. Dabei sei das doch „ein ganz normales Dorf“.
Tatsächlich? Klar, sagt Frau Mergner, der Dorfklatsch zum Beispiel, der habe auch über die Mauer hinweg funktioniert. Man habe alles erfahren von drüben, wer mit wem und so. Sie lacht. All die Jahrzehnte haben sie gegen das Trennende gekämpft. Einen Steinwurf von Mergners Hof entfernt hängt noch immer eine alte Tafel vom „Bund der Mitteldeutschen“. „Diese Grenze ist keine Grenze“, steht da. „Wir sind hier mitten in Deutschland.“
Radweg Eiserner Vorhang: www.ironcurtaintrail.eu; Michael Cramer hat in der Bikeline-Reihe (Verlag Esterbauer) drei Tourenbücher „Eiserner Vorhang“ veröffentlicht, www.esterbauer.com.
Anreise:Mit der Bahn zu einem beliebigen Startpunkt. In der Nähe der Route befinden sich immer wieder Bahnhöfe. Auf der hier beschriebenen Strecke zwischen Geisa und Mödlareuth sind dies zum Beispiel: Hünfeld, Mellrichstadt, Rentwertshausen, Rödental, Neustadt bei Coburg, Sonneberg, Ludwigsstadt, Gutenfürst. Es empfiehlt sich, die Zugreise frühzeitig zu planen, um noch reservierungspflichtige Rad-Stellplätze in einem Intercity zu bekommen.
Übernachtungen: Geisa: Gästehaus Fürstliches Schloss, Schlossplatz 5, 36419 Geisa, Tel. 036967/59?35?50, DZ 84,50 Euro mit Frühstück. Sonneberg: Gasthaus Zur Hohen Sonne, Waldstraße 6, 96515 Sonneberg, Telefon: 03675/70 30 84, DZ 55 Euro mit Frühstück. Lehesten: Hotel Schieferpark, Staatsbruch 1, 07349 Lehesten, Tel. 036653/269?60, DZ 62 Euro mit Frühstück. Informationen zu fahrradfreundlichen Unterkünften: www.bettundbike.de