Wer in die neuen EU-Länder reisen will, ist Tage unterwegs - es wird Zeit für ein modernes transeuropäisches Netz. Beitrag von Michael Cramer in der Süddeutschen Zeitung
Wer in die neuen EU-Länder reisen will, ist Tage unterwegs - es wird Zeit für ein modernes transeuropäisches Netz.
Von Michael Cramer
Nachdem sich die Staats- und Regierungschefs der EU auf die Haushaltsplanung bis 2013 verständigt haben, steht fest, dass es mit den vom Europa-Parlament geforderten 20 Milliarden Euro für die Transeuropäischen Netze nichts wird. Die Mittel wurden kurzerhand auf ein Drittel reduziert. Aber selbst wenn dieser Betrag noch erhöht werden sollte: Die 30 Projekte des Transeuropäischen Netzwerks gehören aus einer Reihe von Gründen auf den Prüfstand. Geklärt werden muss, welchen verkehrspolitischen Effekt sie haben, wie sie sich auf die Umwelt auswirken und welchen Anteil sie an der Reduzierung der Arbeitslosigkeit in den Regionen haben, durch die sie verlaufen.
Wenn auch in Europa zusammenwachsen soll, was zusammengehört, müssen die deutschen Erfahrungen berücksichtigt werden. Kurz nach dem Mauerfall hatte die Bundesregierung die "Verkehrsprojekte Deutsche Einheit" erarbeitet. Die Grundidee, mit oberster Priorität zunächst die deutsch-deutschen Projekte zu realisieren, war damals richtig. In der europäischen Verkehrspolitik gibt es aber keine Prioritätensetzung. Stattdessen findet man unter den 30 Projekten, einer Wunschliste nationaler Egoismen, immerhin vier, bei denen die Kosten-Nutzen-Effizienz fragwürdig ist.
Dazu gehört zum Beispiel die Brücke über die Straße von Messina zwischen Sizilien und dem italienischen Festland. Diese Brücke soll von der EU kofinanziert werden. In Italien gäbe es aber wichtigere Projekte: Die Züge zwischen Messina und Trapani etwa benötigen heute für die 340 Kilometer tagsüber zwischen sechs und zehn Stunden, da die Bahnlinien auf Sizilien nicht einmal zu 25 Prozent elektrifiziert sind.
In Zweifel zu ziehen ist auch der Brenner-Basistunnel zwischen Österreich und Italien. Mit den dazugehörigen Zulaufstrecken wird die Tunnelstrecke zwischen München und Verona fast 250 Kilometer betragen. Das zweite Gleis zwischen Verona und Bologna ist übrigens noch immer nicht gelegt worden, obwohl es schon Mussolini in den zwanziger Jahren versprochen hatte. Auch zur Fußball-WM 1990 sollte es schon in Betrieb gehen. Strittig ist zudem der 93 Kilometer lange Eisenbahn-Tunnel zwischen Frankreich und Italien. Die Kosten für die Strecke zwischen Lyon und Turin von 13 Milliarden sind doppelt so hoch, wie das Finanzierungsprogramm der EU für die Jahre 2007-13 vorsieht. Und reden muss man auch über die Fehmarnbelt-Brücke zwischen Deutschland und Dänemark. Hierfür werden fünf Milliarden Euro veranschlagt. Nach der Fertigstellung würden die mit Milliarden-Investitionen modernisierten Häfen in Mecklenburg-Vorpommern und Südschweden absterben. Nicht nur Ostdeutschland, ganz Ost-Europa würde vom Nord-Süd-Verkehr der EU abgekoppelt.
Dabei gibt es bereits eine "fließende Brücke": Moderne Doppelendfähren fahren fast ohne Wartezeiten auf der so genannten "Vogelfluglinie" Puttgarden-Rødby rund um die Uhr, 96 mal am Tag und das ganze Jahr über; sie können Pkws und Lkws mitnehmen. Da parallel zur Bahnverbindung auch eine Straßenbrücke gebaut werden soll, würde die Verlagerung auf die Schiene nicht stattfinden. Im Gegenteil: Wegen der unfairen Wettbewerbsbedingungen würde der Lkw-Verkehr zwischen Skandinavien und Ost-Europa mit kilometerlangen Umwegen über Schleswig-Holstein geführt. Das wäre unsinnig.
Dabei müsste die EU gewarnt sein: Am Col du Somport wurde parallel zur 1976 stillgelegten Eisenbahn ein Autobahntunnel durch die Pyrenäen geschlagen und an das spanische Autobahnnetz angebunden. Auf der französischen Seite mündet er aber in bescheidene Dorfstraßen. Trotz Milliarden-Investitionen gibt es keinen verkehrspolitischen Effekt. Die Sanierung der Bahnstrecke wäre effizienter, kostengünstiger und schneller gewesen.
Aber nicht nur aus finanziellen, auch aus arbeitsmarktpolitischen Gründen ist ein Verzicht auf milliardenschwere Prestigeprojekte notwendig. Beim Brücken- und Tunnelbau ist der Arbeitsplatzeffekt gering. Sie sind kapital- und maschinenintensiv, beschäftigten aber nur wenige Menschen. Bei der Sanierung von Verkehrswegen ist die Arbeitsplatzeffizienz etwa zwanzigmal so hoch. Die Frage, die sich Europa stellen muss, lautet: Erreichen wir mit 350 Kilometer Tunnel- und Brückenbau mehr verkehrspolitische Effizienz als mit 7000 Kilometer modernisierter Schienenstrecken?
Ganz klar: Die Sanierung und insbesondere die Verkehrsprojekte Europäische Einheit müssten den Vorrang bekommen. Verkehrspolitisch ist der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West nämlich noch vorhanden. Fährt man heute mit der Eisenbahn von Berlin in die estnische Hauptstadt Tallinn, benötigt man für die 1700 Kilometer 60 Stunden. Man muss neun Mal umsteigen, der Zug hält an 60 Bahnhöfen, und die Grenze zwischen Estland und Lettland muss man zu Fuß überwinden. Hätten wir heute das Tempo der Dampflokomotive von 1935, wären wir mit 27 Stunden Fahrzeit mehr als doppelt so schnell am Ziel.
Wenn Europa zusammenwachsen will, müssen die Verkehrswege in die mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten oberste Priorität bekommen. Mit der Sanierung der Eisenbahnverbindung von Berlin über Warschau, Vilnius und Riga nach Tallin sowie der von Berlin nach Prag, Budapest, Bratislava und Ljubljana wären alle mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer mit der alten EU verbunden. Eine gute Verkehrsinfrastruktur ist eine wichtige Voraussetzung, um die Spaltung Europas endgültig überwinden zu können. Nur mit vielen grenzüberschreitenden Begegnungen wird es möglich sein, den Verständigungsprozess mit den mittel- und osteuropäischen Nachbarn so erfolgreich zu gestalten wie nach dem Krieg das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich.
Europa braucht ein dichtes und zeitgemäßes Eisenbahnnetz von Lissabon nach Tallin, von London nach Athen, von Paris nach Warschau. Soll die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene nicht nur in Sonntagsreden stattfinden, müssen die umweltfreundlichen "Verkehrsprojekte Europäische Einheit", die Eisenbahnverbindungen zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten, schnell gschaffen werden. Auch aus ökologischen Gründen:
Der Verkehrssektor ist mit einem Anteil von 30 Prozent an den Gesamtemissionen einer der größten Verursacher von Treibhausgasen. Der Bahnausbau ist notwendig, will die EU die Kyoto-Ziele erreichen. Das gelingt aber nur, wenn die Zugsignale auf Grün stehen. Der Franzose Jacques Barrot wäre ein sehr erfolgreicher EU-Kommissar für Verkehr, wenn er am Ende seiner Amtszeit verkünden könnte, dass er im zusammenwachsenden Europa des 21. Jahrhunderts im Schienenverkehr zwischen Ost und West wenigstens das Tempo der Dampflokomotive erreicht hätte.