Sehr geehrte Frau Kommissarin Bulc,
sehr geehrte Ministerinnen und Minister,
Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,
diese Schilderungen werde ich nie vergessen: Jeden Tag rufen LKW-Fahrer in Europa die Polizei an und flehen darum, angehalten und kontrolliert zu werden, nur damit sie nach 17 Stunden Fahrerei ein wenig Ruhe finden. Anders – so sagten uns Polizisten - könnten sie ihre Pausen gegenüber ihren Chefs nicht mehr rechtfertigen.
Aber nicht nur auf der Straße werden die Beschäftigungsverhältnisse immer prekärer. Inzwischen sind sogar Piloten – einst stets glamourös unterwegs –von dem race to the bottom der Sozialstandards betroffen.
Für junge Piloten – vor allem bei Ryanair und den anderen Billigairlines - ist es heute traurige Realität, dass sie nur noch für geleistete Flugstunden bezahlt werden. Sie müssen also ständig auf Abruf sein. Manchmal müssen sie sogar zehntausende Euro dafür zahlen, dass sie vollbesetzte Passagiermaschinen fliegen dürfen – nur um noch mehr Flugstunden zu sammeln. In der Hoffnung auf einen festen Vertrag - irgendwann. Das muss geändert werden!
Modern nennt sich diese Ausbeutung dann zero-hour oder pay-to-fly Arbeitsverträge. Statt krankmelden krank fliegen? Das geht nicht nur zu Lasten der jungen Piloten, sondern das betrifft letztlich die allgemeine Sicherheit im Luftverkehr – und die muss oberste Priorität haben!
Meine Damen und Herren, so habe ich mir Europa nicht vorgestellt!
Ja - natürlich wollen wir Grenzen überwinden. Aber doch Staatsgrenzen, und nicht die des Rechts und der Menschenwürde.
Nicht nur als ehemaliger Gewerkschafter bin ich zutiefst überzeugt: Europa darf nicht nur für den Binnenmarkt, sondern muss für die dort lebenden und arbeitenden Menschen da sein.
Und in diesem Punkt hat die EU bisher teilweise versagt - das müssen wir uns ganz ehrlich eingestehen.
Und es ist nicht so, als gäbe es keine europäischen Regeln. Für Straße, Schiene, Luft und Wasser hat die EU Sozialregeln erlassen.
Aber wer mit offenen Augen durch Europa geht, kommt nicht umhin zu sehen: In der Realität werden diese Regeln viel zu oft missachtet.
Wenn Briefkastenfirmen einen Wettbewerb um die niedrigsten Standards austragen, muss Europa handeln. Wenn immer neue Vertragskonstrukte die Rechte der Arbeitnehmer aushebeln, muss Europa aktiv werden. Und wenn die Unternehmen, die sich an Recht und Gesetz halten, wenn die Ehrlichen die Dummen sind: Dann ist es Zeit, zu handeln!
Für die Beschäftigten, für die ehrlichen Unternehmen, für die Kunden und auch für die Umwelt. Und das ist keine Frage der geographischen Lage – schließlich wollen wir allen EU-Bürgern, ob Nord oder Süd, Ost oder West, würdige Lebens- und Arbeitsbedingungen sichern.
Es gibt also viel zu tun. Die gute Nachricht ist, da bin ich sicher: Europa kann auch anders. Auch die heutige Konferenz zeigt in meinen Augen: Es gibt einen „wind of change“ in der EU.
Endlich begreifen viele, dass wir die sozialen Herausforderungen angehen müssen, von der EU-Kommission über das Parlament bis zum Rat.
„A social agenda for transport“: Genau das brauchen wir!
Im Namen des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament kann ich sagen: Quer durch alle Fraktionen wird die soziale Dimension des Verkehrs als eines der dringenden Themen betrachtet.
Bereits 2011 hatte das Parlament im Hinblick auf das „Weißbuch Verkehr“ der Kommission festgehalten: „im Zuge der Schaffung eines einheitlichen Verkehrsraumes [müssen] die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen und die Aus- und Weiterbildung auf einem hohen Niveau harmonisiert und auf der Grundlage eines wirksamen sozialen Dialogs auf europäischer Ebene kontinuierlich verbessert werden.“[1]
Und im Augenblick arbeitet unser Ausschuss mit an der Halbzeitbilanz dieses Weißbuchs. Unser Berichterstatter, mein Kollege Wim van de Camp, will sehr konkret werden: Er fordert von der Kommission „die Annahme eines Sozialkodex für Fahrpersonal, der auch dem Problem der Scheinselbstständigkeit begegnet.“[2]
In den nächsten Wochen werden wir über diesen Berichtsentwurf abstimmen. Und die heutige Konferenz wird diese Debatte sicher weiter beleben.
Denn nicht nur in Europa, auch weltweit erwarten die Menschen von uns, dass wir uns für faire Sozialregeln einsetzen.
Dazu ist jetzt vor allem die EU-Kommission am Zug. Ich freue mich sehr, dass die Kommissarinnen Bulc und Thyssen die heutige Konferenz organisieren – für mich ist das eine Premiere, die zur Tradition werden darf.
Und schon bald erwartet das Parlament konkrete Gesetzesinitiativen: Zum Luftfahrtpaket, bei dem der faire Wettbewerb – vor Ort und weltweit – im Mittelpunkt stehen soll. Und zum Straßenverkehrspaket, von dem ich mir nicht nur das Schließen von Schlupflöchern, sondern auch eine Modernisierung der Regeln erhoffe.
Ich weiß, dass die Möglichkeiten der Digitalisierung ganz besonders unserer Verkehrskommissarin, Violeta Bulc, am Herzern liegen.
Doch in der Zwischenzeit dürfen wir nicht einfach untätig bleiben – und da schaue ich besonders auf die Vertreter der Mitgliedstaaten: Eine konsequente Umsetzung der heutigen Gesetze kann nicht warten.
Zum Schluss möchte ich die Kommissarinnen Thyssen und Bulc deshalb einladen: Lassen Sie uns zusammen eine Sozialagenda für den Verkehr in Europa vom Kopf auf die Füße stellen. Dann ist Ihnen nicht nur mein Applaus sicher – sondern auch der der Piloten bei Ihrem nächsten Flug, der Fahrer und Lokführer bei Ihrer nächsten Reise und der Besatzung bei ihrer nächsten Schiffstaufe.
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[1] http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2010-0260+0+DOC+XML+V0//DE