Wo stand die Mauer? Diese Frage stellen nicht nur junge Menschen, die sich nicht an die Berliner Mauer erinnern können. Ein "Mauerlehrpfad" kann Interessierte auf politisch-historische Spuren bringen.
"Wo stand eigentlich die Mauer?" fragen viele Berlin-Touristen. Der Mauerverlauf ist kaum dokumentiert, weil in der Wendezeit bis auf wenige Ausnahmen alle Hinweise auf den Grenzverlauf beseitigt wurden.
Psychologisch mag es verständlich sein, dass die Mauer als Symbol der Spaltung damals spurlos verschwinden sollte. Heute wird aber parteiübergreifend eingestanden, dass es ein Fehler war, fast alle Spuren von Todesstreifen und Betonwall zu beseitigen.
Dieses Defizit könnte durch einen "Mauerlehrpfad" behoben werden, denn die Stadtentwicklung der Jahre nach dem Fall der Mauer ist in einem solch rasanten Tempo vorangeschritten, dass sich selbst viele Berlinerinnen und Berliner nur noch schwer an den genauen Verlauf der Mauer erinnern können. Für Jugendliche sind diese Zeiten schon Geschichte. Um so notwendiger ist es, die Spaltung im Stadtbild erkennbar zu machen. Der Verlauf der innerstädtischen Grenze, der bereits zu einem Teil durch doppelreihige Kopfsteinpflastersteine markiert ist, müsste durchgängig dokumentiert und mit Hinweisschildern erläutert werden.
Ein "Mauerlehrpfad" wäre in der Tat ein abwechslungsreicher und geschichtsträchtiger Weg. Er würde an wichtigen und bekannten Stadtplätzen vorbei führen und den Besuchern den Checkpoint-Charly, den Potsdamer Platz, den Invalidenfriedhof und die Bernauer Straße in Erinnerung rufen. Auch die am 9. November 1989 berühmt gewordene Bösebrücke in der Bornholmer Straße, auf der die ersten Grenzgänger mit Jubel und Sekt begrüßt wurden, gehörte zum Programm. Sehenswürdig sind natürlich auch die legendäre Oberbaumbrücke, die East-Side-Gallery oder die u.a. von Thierry Noir bemalten Mauersegmente am Potsdamer Platz. Von Interesse wird auch das Parlament der Bäume von Ben Wargin sein, dessen kurz nach dem Fall der Mauer geschaffenes Kunstwerk in die Bundestagsbauten auf dem östlichen Spreebogen integriert worden ist.
Einen völlig anderen Eindruck bekommt man auf dem "Mauerlehrpfad" zum angrenzenden Brandenburg. Weit ab von der pulsierenden Millionenmetropole wird man in eine landschaftlich reizvolle und ruhige Landidylle zurückversetzt. Die Planung der betroffenen Landkreise sieht auf dem ehemaligen Mauerstreifen in der Regel Rad- und Wanderwege vor. Man passiert z.B. den Eiskeller in Spandau, ein Gebiet, das fast vollständig von der Mauer umgeben war. Oder den ehemaligen Grenzübergang in Staaken. Geschichtsträchtig ist auch die Glienicker Brücke, auf der die Großmächte ihre Spione ausgetauscht haben. Und natürlich die größte Grenzanlage Dreilinden, die unter Denkmalschutz gestellt wurde, und heute ein Museum beherbergt.
Um den etwa 150 km langen Grenzstreifen um West-Berlin optimal erschließen zu können, sind Fahrräder - aber auch Inline-Skates - geeignete Verkehrsmittel. Notwendig ist es deshalb, den ehemaligen Grenzstreifen auszuschildern, wie es allgemein bei Fahrradrouten üblich ist. Zudem sollten auch Fahrradverleihstationen eingerichtet werden. Als Ergänzung zu den Hinweisen im Stadtbild, die mit historischen Photos ergänzt werden sollten, müsste eine Broschüre erstellt werden, in der die Geschichte der Berliner Mauer aufgearbeitet und durch Vorher/Nachher-Photos veranschaulicht wird.
Der "Mauerlehrpfad" böte eine ideale Kombination von Geschichtswerkstatt und Fahrradtourismus, von Freizeit und Kultur. Insbesondere der innerstädtische Abschnitt zwischen Invalidenstraße und Spittelmarkt sollte so informativ gestaltet werden, dass er nicht nur zum Fahrradfahren sondern auch zu einer Erkundung per pedes einlädt. Selbstverständlich müßte die gesamte Strecke barrierefrei gestaltet werden, so dass sie auch von Menschen mit Rollstuhl oder Kinderwagen benutzt werden könnte.
Der "Mauerlehrpfad" wäre ein Highlight im Tourismus-Programm des Stadt. Interessant ist das Projekt aber auch für die Schulen und die kulturellen Einrichtungen Berlins. Deshalb ist er eine Aufgabe nicht nur für die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, sondern auch für Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft sowie Schule, Jugend und Sport. Da der Umland-Mauerstreifen zu einem großen Teil in Brandenburg liegt, ist eine Zusammenarbeit mit den angrenzenden Landkreisen notwendig.
Andere Städte und Regionen zeigen Wege auf, wie an wichtige Geschichtsprozesse erinnert werden kann. So kennzeichnet die Stadt Boston in Massachusetts (USA) den "Freedom Trail" zur Erinnerung an den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg mit einer roten Linie und weist mit Stelltafeln und Hinweisen auf historische Ereignisse und Bauwerke hin. Die Tourismus-Institutionen der Stadt werben in ihren Publikationen für den etwa 5 km langen Fußweg, der bei den Touristen auf große Akzeptanz stößt.
Auch der ehemalige innerdeutsche Grenzstreifen von der Ostsee bis zum Vogtland kann heute als Radwanderweg genutzt werden. Der Fahrradführer "Am Grünen Band" ist im letzten Jahr erschienen. Im ehemaligen Grenzbereich existieren heute wertvolle Naturschutzgebiete und Biotope. Für den Fahrradtouristen wird das "Grüne Band" im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar als ein ökologisches Denkmal und Mahnmal gegen das Vergessen. Auf der Route liegen z.B. das Grenzlandmuseum in Schnackenburg, die Dokumentation der Grenzanlagen in der 1974 auf Befehl Honeckers dem Erdboden gleichgemachten Grenzgemeinde Stresow oder die Abfertigungsanlagen des ehemaligen Grenzübergangs in Marienborn.
In der Fahrrad-Broschüre enthalten sind Berichte, die das Leben an und mit der Mauer beschreiben. Der Radler findet in dem Büchlein auch Hinweise auf Öffnungszeiten der Museen, Übernachtungsmöglichkeiten und das notwendige Kartenmaterial. Der Grenzlehrpfad erfreut sich einer breiten Akzeptanz.
Fahrradfahren wird immer beliebter. Von einem 150 km langen "Mauerlehrpfad" würden Berlin-Touristen wie auch Einheimische profitieren. Die Verbindung von städtischer und ländlicher Struktur, die fahrradfreundlich flache Landschaft, die Geschichte und auch die Größe der Stadt sind ideale Voraussetzungen für eine Fahrradroute entlang der ehemaligen Sektoren-Grenze.
Im nächsten Jahr, am 13. August 2001, wird des 40. Jahrestags des Mauerbaus gedacht werden. Es wäre eine angemessene Erinnerung an die Spaltung der Stadt und deren Überwindung, wenn auf dem Gebiet des ehemaligen Grenzstreifens ein "Mauerlehrpfad" als Rad- und Wanderweg realisiert würde.
Michael Cramer