Nicht nur auf die Gesichter von europäischen Landwirten legen sich derzeit Sorgenfalten, spricht man die Verhandlungen über den künftigen EU-Haushalt, genauer: den mittelfristigen Finanzplan der Union, an. Das liegt vor allem daran, dass das Ende des aktuellen Budgetrahmens voraussichtlich mit dem Brexit, dem Austritt Großbritanniens aus der EU, zusammenfallen wird. Und der schlägt auch finanziell zu Buche: Jährlich müsse eine Lücke von 12 bis 14 Mrd. EUR ausgeglichen werden, rechnet EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger vor. Um weiterhin europäische Vorhaben zu finanzieren, seien Einsparungen und auch neue Geldquellen erforderlich.
Wie der neue mehrjährige Finanzrahmen aussehen soll, will die Europäische Kommission im nächsten Monat darlegen. Anschließend stehen harte Verhandlungen zwischen den Regierungen, aber auch mit dem Europäischen Parlament an. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass die EU-Agrarpolitik mit Einschnitten rechnen muss – daher die besonders tiefen Sorgenfalten vor allem bei europäischen Großbauern. Doch klar ist auch: Mit Ausnahme des Austauschprogramms Erasmus+ und der Forschungsvorhaben stehen alle Budgetposten auf dem Prüfstand.
Auch Investitionen in den Verkehr stehen auf dem Prüfstand
Somit werden auch die Verkehrsinvestitionen hinterfragt – mit möglicherweise sehr spürbaren Folgen: Auf die stolze Summe von 58 Mrd. EUR summiert sich der Verkehrsetat im laufenden Zeitraum 2014–2020. Diese Rekordsumme war das Ergebnis äußerst hartnäckiger Verhandlungen, aus denen der Verkehrssektor als Sieger hervorging. So konnte für die Transeuropäischen Verkehrsnetze eine Steigerung um 51 Prozent im Vergleich zur Vorperiode erreicht werden. Diese Mittel werden rege genutzt: Die Anträge übersteigen das verfügbare Budget bisher stets um ein Vielfaches. Und fast 90 Prozent der bis 2020 zu vergebenden Mittel sind bereits verplant. Droht diese hart errungene Erfolgsgeschichte nun wieder gestoppt zu werden?
Seriöse Prognosen über den Ausgang der Budgetverhandlungen sind schlicht nicht möglich. Doch in meinen Augen ist der Verkehrssektor gut beraten, sich auf Kürzungen einzustellen – und das nicht per se als Katastrophe zu sehen. Wie das gehen soll? Indem wir uns die etwas ketzerische Frage gestatten: Ist weniger vielleicht mehr?
Auf diese Idee kommt, wer die EU-Verkehrsausgaben der vergangenen Jahre und Jahrzehnte einer kritischen Bewertung unterzieht. Denn einerseits kann sich die europäische Ebene rühmen, ihr Geld viel nachhaltiger auszugeben, als die meisten Regierungen das tun. So fließen über 80 Prozent der Mittel für die Transeuropäischen Netze in Verkehrsträger mit niedrigen CO 2 -Emissionen. Und gemeinsame Vorhaben wie die „Rail Baltica“ von Polen bis Estland oder eine bessere Hinterlandanbindung der Seehäfen bringen Europa wirklich voran.
Ungesunde Konzentration auf milliardenschwere Großprojekte
Doch andererseits sticht auch heute noch eine ungesunde Konzentration auf milliardenschwere Großprojekte ins Auge. Diese Vorhaben sind meist erst nach Jahrzehnten abgeschlossen und haben einen begrenzten europäischen Nutzen. Doch binden sie einen sehr großen Teil der Mittel. Beispielhaft steht dafür das Tunnelprojekt durch die Alpen zwischen Lyon und Turin, das dem französischen Rechnungshof zufolge statt der offiziell veranschlagten 12 Mrd. EUR am Ende mehr als das Doppelte kosten dürfte. Und das, obwohl die Bestandsstrecke schlecht gewartet und bei weitem nicht ausgelastet ist.
Weitere Beispiele finden sich auch anderswo: Von der festen Fehmarnbelt-Querung im Norden bis hin zum Brenner-Basistunnel im Süden. Gemein ist diesen Projekten neben dem riesigen Finanzbedarf die schwache Integration in eine europäische Netzwerkplanung und das häufige Fehlen ausreichender Zulaufstrecken. Viele Regierungen nehmen EU-Mittel gerne für ohnehin geplante nationale Vorhaben mit, ohne bis oder über die Staatsgrenze zu planen. Die Folge: Europas Verkehrsnetz ist bis heute ein Flickenteppich, dessen Lücken genau an den Grenzen klaffen.
Das neueste Beispiel: die gerade erst in Betrieb genommene Bahnstrecke zwischen Berlin und München. Ihr Bau hat 20 Jahre gebraucht und 10 Mrd. EUR verschlungen. Auch die EU hat das Vorhaben finanziell unterstützt. Die Strecke ist nun in Betrieb, doch die Durchbindung in die Nachbarländer wurde nicht einmal abschließend geplant. Will man beispielsweise von Berlin weiter nach Polen, ist man heute langsamer unterwegs als vor dem Zweiten Weltkrieg. Für nur 100 Mio. EUR könnte man die Fahrtzeit zwischen Berlin und Breslau auf zweieinhalb Stunden halbieren, indem man die 50 km lange Elektrifizierungslücke schließt. Böse Zungen behaupten, das wäre schon längst geschehen, benötigte man statt kleiner Verbesserungen einen mehrere Milliarden Euro teuren Tunnel.
Auch im Süden sieht es mau aus: Die Route der Zulaufstrecke zur österreichischen Grenze ist noch nicht einmal festgelegt, während am Brenner-Basistunnel schon seit Jahren gebaut wird. Diese Liste ließe sich lange fortsetzen.
Gretchenfrage: Was ist europäischer Mehrwert?
Entscheidend ist: Wie geht es besser – und was hat das mit einem zusammengestrichenen Haushalt zu tun? Die Erfahrung lehrt: Die Konzentration auf das Wesentliche schärft die Sinne. Deshalb hat Oettinger Recht, wenn er die Gretchenfrage der europäischen Verkehrspolitik stellt: Was ist europäischer Mehrwert? Diese Frage müssen wir viel ernsthafter beantworten.
In meinen Augen lässt sich europäischer Mehrwert auf keinen Fall mit dem Gießkannenprinzip erreichen. Jedem Mitgliedstaat menschenleere Regionalflughäfen, wenig genutzte Autobahnen oder unkoordinierte Hafenprojekte zu spendieren, schadet dem Ruf Europas so sehr wie dem Haushalt.
Antwort: Grenzenquerende Verbindungen ohne Gigantismus
Stattdessen muss Europa gezielt in den europäischen Mehrwert investieren. Erstens in grenzüberschreitende Verbindungen abseits vom Gigantismus. Das 2016 erstmalig aufgelegte EU-Programm für kleine Lückenschlüsse stieß auf hohe Nachfrage und wird für nur 140 Mio. EUR insgesamt 18 Projekte quer durch Europa voranbringen. Hier kann mit wenig Geld viel erreicht werden. Oftmals gilt: Während im Fernverkehr schon eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen gefeiert wird, sind im Nah- und Regionalverkehr teilweise Zunahmen um den Faktor 400 erzielt worden.
Zweitens dürfen wir nicht blind in „Hardware“ – immer neue Infrastruktur – investieren, während sich die Mobilität rapide wandelt. Anstatt einfach neu zu bauen, sollten die oftmals maroden Verkehrswege zunächst endlich erhalten und clever ertüchtigt werden.
Das gilt besonders mit Blick auf die Regional- und Kohäsionsfonds, die mehr als die Hälfte der EU-Verkehrsausgaben ausmachen. Der Trend zum Teilen und die Automatisierung verlangen statt mehr Kapazitäten wahrscheinlich vor allem ein anderes Management. Gemeinsame Forschungsprogramme, die Standardisierung von Schnittstellen und Investitionen in den gesamten Lebenszyklus sind hierauf angemessene Antworten.
Ist weniger am Ende mehr? Dieser Frage geht Michael Cramer nach. Sie muss gestellt werden, denn der Autor ist sicher: Der Verkehrssektor ist gut beraten, sich im künftigen mittelfristigen Finanzplan der EU auf weniger Zuwendungen aus dem EU-Haushalt einzustellen. Das ist seine schlechte Nachricht. Die Gute: Genau dieser Zwang kann Europas Verkehrspolitik entscheidend voranbringen. Da ist Cramer sehr sicher.