In einem Zug zum Ziel

15. Mai 2006 zur Übersicht

Aus 20 mach eins - ERTMS soll Signalgebung und Geschwindigkeitsüberwachung des Eisenbahnverkehrs in der EU vereinheitlichen, um Transportkosten zu senken. Beitrag von Michael Cramer in der Zeitschrift punkt.um Mai 2006.

Digitale Technik kann die 20 Signalsysteme im europäischen Eisenbahnnetz vereinheitlichen

Das Zugnetz in Europa gleicht einem großen Flickenteppich: Jedes Land hat seine eigenen Lokomotiven und Signalsysteme. ERTMS heißt die Technik, die einen durchgängigen Verkehr ermöglichen und den Transport günstiger machen soll. Unklar ist, wie sie finanziert werden kann.

VON MICHAEL CRAMER, MdEP

Wenn ein Zug heute über nationale Grenzen der EU hinaus will, muss dessen Lok entweder gewechselt werden oder eine Menge Technik in ihr stecken. Der Hochgeschwindigkeitszug Thalys zum Beispiel braucht sieben Systeme, um zwischen Paris, Brüssel, Amsterdam und Köln fahren zu können. Solche Mehrsystemlokomotiven sind nicht nur teuer. Sie erschweren auch die Arbeit der Lokführer und stellen so eine mögliche Gefahrenquelle dar. Kurzum: Die gegenwärtige Existenz von mehr als 20 unterschiedlichen Signalgebungs- und Geschwindigkeitsüberwachungssystemen in der EU ist angesichts eines gemeinsamen Binnenmarkts mit wachsenden Verkehrsströmen alles andere als zeitgemäß.

Intelligentes System statt Neubauten

Aus über 20 mach eins - das ist der anspruchsvolle und auf 20 Jahre angelegte Plan für die Entwicklung eines einheitlichen European Rail Traffic Management Systems (ERTMS). Dahinter steckt eine Technik, die den herkömmlichen Systemen überlegen ist: Es werden keine Signalmasten mehr benötigt und die zulässige Geschwindigkeit wird ständig kontrolliert.

ERTMS besteht aus zwei Basiskomponenten: Die Geschwindigkeit überwacht das European Train Control System (ETCS). Die Informationen zwischen Strecke und Fahrzeug werden über das Global System for Mobile Communication-Rail (GSM-R) übertragen. Bei ETCS vergleicht ein Rechner an Bord der Lokomotive die Geschwindigkeit des Zuges mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Wird diese überschritten, bremst der Zug automatisch ab.

Um Informationen zwischen Strecke und Fahrzeug zu übermitteln gibt es drei Möglichkeiten: Entweder geben Signale, die an der Strecke installiert sind, die Daten über so genannte Standard- oder Eurobalisen weiter (Level 1). Oder sie werden über Mobilfunk übertragen (Level 2). Streckensignale sind dann nicht mehr notwendig, wodurch erhebliche Investitionen und Instandhaltungskosten eingespart werden. In der Endstufe von Level 3 kann ERTMS die Kapazität einer Strecke deutlich erhöhen, weil die Taktzeiten der Züge variiert werden. So können Engpässe in Verkehrsknoten und "Flaschenhälsen" beseitigt werden, ohne dass kostenintensive Neubauten nötig sind.

Die europäische Lokomotive

Durchgehender Verkehr ohne zeitaufwändigen Lok- und Lokführerwechsel an der Grenze senkt Kosten und Transportdauer. So können die Transportströme von der Straße auf die Schiene verlegt werden. Wenn es dann keine französischen, deutschen oder belgischen, sondern nur noch europäische Lokomotiven geben wird, werden wegen der höheren Stückzahlen auch die Produktionskosten sinken.

Kein Wunder also, dass sich die Schweiz entschieden hat, ihr gesamtes Schienennetz mit ERTMS auszustatten. Auch auf vielen Hochgeschwindigkeitsstrecken in der EU ist es bereits installiert, etwa auf den Strecken Rom-Neapel, Wien-Budapest oder Jüterbog-Leipzig.

Obwohl ERTMS ausgereift und getestet ist, führt die Lebensdauer der gegenwärtigen Systeme - in der Regel über 20 Jahre - zu einem langjährigen Nebeneinander von ERTMS und konventionellem System. Der Übergang sollte deshalb langfristig geplant und von der EU-Kommission in einem ERTMS-Masterplan verankert werden. Ein EU-weites Zulassungsverfahren soll nationale Alleingänge verhindern.

Nationale Grenzen überwinden

Mit dem einheitlichen Zugsicherungssystem wird der Vorteil langer Strecken auch in Europa deutlich. In der EU werden gerade mal 14 Prozent der Güter auf der Schiene transportiert, während es im Highway-Land USA etwa 40 Prozent sind. Den Anteil in der EU wesentlich zu steigern, ist angesichts des technischen und politischen Flickenteppichs schwer möglich. Deshalb lohnt es sich in ERTMS zu investieren. Angesichts knapper öffentlicher Kassen hat sich die EU mit den nationalen Eisenbahnen auf die richtigen Prioritäten verständigt: Sechs Güterverkehrskorridore sollen mit ERTMS ausgestattet werden: Rotterdam-Genua, Neapel-Berlin-Stockholm, Antwerpen-Basel/Lyon, Sevilla-Lyon-Turin-Triest-Ljubljana, Dresden-Prag-Brünn-Wien-Budapest, Duisburg-Berlin-Warschau. Durch die Projekte werden nationale Egoismen überwunden, denn es gibt keinen Streit darüber, wie die Finanzmittel auf die beteiligten Länder aufgeteilt werden. Ein schneller Erfolg wird auch zu weiteren Initiativen ermutigen und die Zusammenarbeit in Europa fördern.

Offene Frage: Wer finanziert ERTMS?

Das angestrebte einheitliche System darf allerdings nicht durch die "Hintertür" entwertet werden, indem beispielsweise wenige Kilometer einer Strecke nicht mit ERTMS ausgestattet werden und es nötig wird, die Lücke parallel mit dem jeweiligen nationalen System auszurüsten. ERTMS muss lückenlos von Bahnsteig zu Bahnsteig, von Frachtzentrum zu Frachtzentrum und bis zur Landesgrenze beziehungsweise zum Hafen umgesetzt werden. Die EU darf ERTMS nur fördern, wenn all diese Kriterien erfüllt sind.

Die Schienenschnellverbindung Paris-Ostfrankreich-Südwestdeutschland und der Nord-Süd-Korridor Rotterdam-Genua können noch nicht durchgängig mit ERTMS befahren werden, die Lücken sind schnellstmöglich zu beseitigen. Und die Finanzierung muss noch sichergestellt werden.

ERTMS als innovativer Exportschlager

Natürlich unterscheiden sich die Mitgliedsländer beziehungsweise die Eisenbahnunternehmen bezüglich des jeweiligen Investitionsbedarfs, ihrer nationalen Zugsicherungs- und Signalsysteme und der "Marktphase", in der sie sich befinden. Solche Unterschiede sind aber in der EU unvermeidlich und stellen kein Argument gegen ERTMS dar. Angesichts der europäischen Dimension von ERTMS sind Fördermittel gerechtfertigt und auch erforderlich. Mitgliedstaaten, EU, Eisenbahnunternehmen und Bahnindustrie müssen im Konsens handeln und die Kosten fair aufteilen.

Um für kleine und mittlere Unternehmen die hohen Anfangskosten zu senken und den Marktzutritt zu erleichtern, sollte die EU-Kommission verstärkt darüber nachdenken, Leasingmodelle für das rollende Material zu fördern.

ERTMS bietet nicht nur Chancen für das zusammenwachsende Europa. Es hat auch entscheidende Bedeutung für die mittel- bis langfristige Entwicklung der Eisenbahnindustrie und ihrer 15.000 hoch qualifizierten Arbeitnehmer. Schon heute ist es ein Exportschlager par exellence: Viele - auch außereuropäische - Eisenbahnunternehmen haben sich entschieden, ihre veralteten Systeme durch ERTMS zu ersetzen. Gegenwärtige Lokbestellungen aus Korea, Taiwan, Indien, Saudi-Arabien und aus China sowie einige Infrastrukturprojekte in diesen Ländern zeigen klar das Marktpotenzial. ERTMS kann zum Weltstandard werden, wenn es auf einer starken Marktbasis in Europa aufbauen kann.

Die Europäische Union braucht ein einheitliches Eisenbahnnetz für den Transport sowohl von Gütern als auch von Personen, von Lissabon nach Tallinn, von Paris nach Warschau und von London nach Athen. Mit ERTMS wird sie diesem Ziel einen großen Schritt näherkommen.

Michael Cramer ist Berichterstatter des Europäischen Parlaments zu ERTMS. Er ist Sprecher der Grünen/EFA im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr.