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Riga
Die Triebwagenkomposition, die im Hauptbahnhof von Riga am Bahnsteig 11 steht, verspricht ein archaisches Eisenbahnerlebnis. Der Zug schaut nicht nur aus wie aus dem letzten Jahrhundert, er ist es auch. So ist man sich denn auch nicht ganz sicher, ob man für die Reise von der lettischen Hauptstadt in den estnisch-lettischen Grenzort Valga nicht etwa in einen Museumszug einsteigt. Die modernisierte Inneneinrichtung lässt jedoch nur den Schluss zu, dass die lettischen Eisenbahnen die aus der Sowjetära stammenden, vor 50 Jahren in der Waggonfabrik Riga gebauten Triebzüge der Reihe DR1A tatsächlich noch im regulären Betrieb haben.
Wolldecken in der 1. Klasse
Der Zug füllt sich gut, und schon bald ruckelt und zuckelt er durch die flache lettische Landschaft mit ihren ausgedehnten Wäldern in prächtigen Herbstfarben. Kaum ein bisschen in Fahrt, bremst er jeweils auch schon wieder. An jeder Ecke wird gehalten auf der rund dreistündigen Reise – was nur recht und billig ist, denn schliesslich ist es eine von bloss zwei Verbindungen täglich zwischen Riga und Valga.
Um in den Genuss der Komfortklasse zu kommen, in der laut der Website der lettischen Bahnen Annehmlichkeiten wie reservierbare Sitzplätze, Gepäckablagen, Wolldecken auf Verlangen oder die Möglichkeit zum Kauf von Kaffee oder Tee warten, wird auf den Billettpreis von knapp 6 € noch ein Aufschlag von € 1.40 fällig. Allerdings führt nur der Abendzug eine Komfortklasse, und dieser hat in Valga keine Fortsetzung mehr nach Tallinn. So ist man für eine Bahnreise von der lettischen in die estnische Hauptstadt, denn eine solche gilt es zu absolvieren, auf die Vormittagsverbindung angewiesen. Für diese verspricht der Plakat-Fahrplan in Riga «Anschluss in Valga nach Tartu und Tallinn». Was unterschlagen wird: Die Übergangszeit in diesem zweifellos reizenden, aber vergessenen Provinznest, das rittlings auf der Grenze sitzt, beträgt fast drei Stunden.
Immerhin gestaltet sich die Weiterfahrt in Estland dann wenn nicht zügiger, so doch wenigstens moderner. Die estnischen Eisenbahnen haben unlängst ihr gesamtes Rollmaterial für den Personenverkehr erneuert. Zum Einsatz kommen ausschliesslich Kompositionen des Schweizer Herstellers Stadler Rail.
«Ein neuer Transportkorridor»
Der Selbstversuch einer Zugreise von Riga nach Tallinn, in Luftlinie voneinander bloss rund 300 Kilometer entfernt, ergibt demnach eine kombinierte Fahrt- und Wartezeit von über zehn Stunden. Der heute achtjährige Enkel von Baiba Rubesa wird es da sicherlich besser haben: Wenn er einmal erwachsen ist, wird er in Riga in einen der im Zweistundentakt verkehrenden Hochgeschwindigkeitszüge einsteigen können und 120 Minuten später in Tallinn ankommen. Und er wird stolz sein auf seine Grossmutter. Denn niemand anderer als sie ist es, in ihrer Eigenschaft als Direktorin an der Spitze des multilateralen Projekts «Rail Baltica», die heute die Erstellung dieser neuen Eisenbahnlinie orchestriert.
«Was wir bauen, ist mehr als nur eine Eisenbahnverbindung», sagt Rubesa, eine Kanadierin lettischer Abstammung mit reicher Management-Erfahrung im industriellen Bereich. «Es ist ein neuer Transportkorridor.» Während man sich von Wirtschaftsführern oder auch Politikern gewohnt ist, dass sie gern von ihren Projekten in Superlativen schwärmen, ist diese Einschätzung für das «Rail Baltica»-Projekt tatsächlich angebracht.
Die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland haben in den 25 Jahren seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, zu der sie zuvor unfreiwillig gehört hatten, bedeutende demokratische und marktwirtschaftliche Erfolge erzielt; sie waren gewissermassen der «Express nach Westen». Nach wie vor prekär ist allerdings die Verkehrsinfrastruktur. Eine leistungsfähige Bahnverbindung von Tallinn nach Warschau und der Anschluss an das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz dürften hier eine kleine Revolution bewirken. Das weiss man auch in Brüssel, wo «Rail Baltica» als ein Schlüsselprojekt des Trans-European Transport Network (TEN-T) bezeichnet wird (siehe Zusatztext unten).
Innerbaltische Friktionen
Es ist denn auch die EU, die den Löwenanteil des nötigen Geldes für die Investition von rund 5 Mrd. € bereitstellt. Anfang September sah es jedoch schon fast danach aus, dass das ambitiöse Projekt an Partikulärinteressen der drei beteiligten baltischen Staaten scheitern könnte. Bei einem Besuch in der Region zeigte sich Michael Cramer, der Chef der Verkehrskommission des EU-Parlaments, frustriert über den Hickhack, der die Ausarbeitung eines Abkommens für Beschaffungsfragen begleitete. Nur unter der Drohung, dass die EU-Gelder nicht ausbezahlt würden, gelang dann doch in letzter Minute eine Einigung.
Damals war auch Baiba Rubesa als CEO des Gemeinschaftsunternehmens RB Rail vermutlich etwas nervös, doch inzwischen gibt sie sich gelassen. Meist seien bei grossen Infrastrukturprojekten solcher Art nicht mehr als zwei Länder involviert, doch hier seien es drei Direktbeteiligte und (mit Polen und Finnland) noch zwei weitere potenzielle Teilhaber. Alle hätten ihre nationalen Interessen, das bringe notwendigerweise Friktionen mit sich. Das Problem sei allerdings, dass man nicht Zeit im Überfluss habe.
Beginnen die Züge auf der neuen Strecke ab 2025 tatsächlich zu fahren und werden die Prognosen erreicht, dass bis im Jahr 2030 das Passagieraufkommen 2 Mio. Reisende jährlich betragen wird, stellt dies den derzeitigen Personenverkehr im Baltikum völlig auf den Kopf. Zurzeit wird die Hauptlast der Fernverbindungen im öffentlichen Verkehr von Autobussen getragen, die gegenüber der Eisenbahn mit Reisezeiten von etwas über vier Stunden zwischen Riga und Tallinn nicht nur zeitlich, sondern auch komfortmässig im Vorteil sind – eine der Busgesellschaften bietet auf gewissen Verbindungen sogar eine echte Businessclass an. Zwischen Riga und Vilnius bestehen derzeit sogar überhaupt keine Eisenbahnverbindungen, obwohl es durchgehende Strecken gäbe. «Eisenbahnverkehr im Baltikum, das ist heute weitgehend Gütertransport», erklärt dazu Rubesa, «während es in Westeuropa zu 90% um Personenverkehr geht.»
Positive Begleiteffekte
Es wird sich damit zeigen müssen, ob und wie eine rasche Bahnverbindung durch das Baltikum mit dem im gesellschaftlichen Bewusstsein tiefer verankerten Reisen per Bus zu konkurrieren vermag. Das wird nicht zuletzt von der Preisgestaltung abhängen, für die es indes noch keine klaren Umrisse gibt, weil auch der Betreiber der neuen Linie noch nicht feststeht.
Unabhängig davon ist CEO Rubesa überzeugt, dass die Lebensfähigkeit der Rail Baltica an sich ausser Frage steht; es gehe lediglich um den Grad der Nutzung, den man erreichen könne. Zweifellos kann die neue Eisenbahn wünschenswerte Nebeneffekte bringen. Eine leistungsfähige Cargo-Verbindung von Tallinn oder sogar Helsinki nach Warschau und weiter nach Berlin oder Wien würde nicht nur den Schiffsverkehr auf der Ostsee entlasten, sondern auch das Strassennetz im Baltikum und in Ostpolen, das vom Lastwagentransit zwischen Westeuropa und Russland stark beansprucht wird. Das Projekt hat damit nicht bloss verkehrstechnisches, sondern auch ausgeprägtes umweltpolitisches Potenzial.
Zusatztext
Knüpfen am grossen zukünftigen Transportnetz
Eine Strecke von rund 900 Kilometern Länge, elektrifiziert und doppelspurig ausgebaut in europäischer Normalspur, befahrbar für Personenzüge mit bis zu 240 Kilometern pro Stunde und für Güterzüge mit maximal 120, das ist der technische Steckbrief von Rail Baltica. Im Endausbau, der 2030 erreicht sein soll, wird die Strecke Warschau mit Tallinn verbinden. Ein Gedankenspiel für die etwas fernere Zukunft ist eine Verlängerung nach Helsinki durch einen rund 80 Kilometer langen Tunnel unter dem Finnischen Meerbusen, was gleichzeitig aus den Hauptstädten Finnlands und Estlands einen gemeinsamen Metropolitanraum schaffen würde.
An dieser neuen Nord-Süd-Transportachse sollen zahlreiche sogenannte intermodale Knotenpunkte entstehen. Es handelt sich einerseits um Güterumschlagplätze für den Wechsel von der Normal- auf die russische Breitspur, in der das bestehende baltische Schienennetz gebaut ist und deren Strecken vor allem in west-östlicher Richtung verlaufen. Sie verbinden die baltischen Ostseehäfen primär mit dem russischen Wirtschaftsraum, doch könnte Rail Baltica auch dem Güterverkehr mit Ostasien zu einem Aufschwung verhelfen.
Im Personenverkehr schafft die neue Strecke durch direkte Anschlüsse an die Flughäfen Kaunas und Riga neue Reisemöglichkeiten. Namentlich Kaunas, zurzeit ein Airport für den Budget-Verkehr, könnte dadurch erheblich an Bedeutung gewinnen. Litauens Hauptstadt Vilnius, bloss durch einen Seitenarm an Rail Baltica angebunden, ist hingegen etwas im Abseits des Verkehrsprojekts.