Herausforderungen für eine nachhaltige und bezahlbare Mobilität in der EU

21. Dezember 2015 zur Übersicht

Leitartikel von Michael Cramer in den GVR-Nachrichten

Von Michael Cramer MdEP, Berlin, Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und Tourismus (TRAN) im Europäischen Parlament

Wie können wir in Zukunft nachhaltig und bezahlbar mobil sein? Diese Frage bewegt uns; mobil zu sein ist eine Grundvoraussetzung, um an Aktivitäten der Gesellschaft teilnehmen zu können. Doch: Ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen können. Warum? Konnte der Kohlendioxid-Ausstoß in der europäischen Industrie seit 1990 um 32 Prozent verringert werden, ist er im Verkehr im selben Zeitraum um 28 Prozent gestiegen. Damit frisst der Verkehr all das doppelt und dreifach auf, was in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde. In den Städten ist der Verkehr mit 70 Prozent sogar der größte Verursacher der klimaschädlichen Emissionen. Diese Fehlentwicklung können wir in Deutschland allein nicht umkehren.

Die gute Nachricht: Die kurzen Distanzen in den Städten bieten optimales Potential zum Umstieg auf den Umweltverbund aus Zufußgehen, Rad und öffentlichem Verkehr. Denn 90 Prozent aller Autofahrten in den Städten sind kürzer als sechs Kilometer. Dank neuer Technologien wie Smartphones können wir die verschiedenen Verkehrsmittel heute clever kombinieren: Ich kann morgens mit dem Fahrrad zum Bahnhof fahren, mit der Bahn in die Innenstadt zur Arbeit, mittags das Car-Sharing für den Transport von schweren Gegenständen nutzen und am Abend mit der Bahn und anschließend mit dem Rad wieder nach Hause fahren. Städte wie Berlin haben dafür die besten Voraussetzungen.

Doch es reicht nicht, wenn es eine Stadt / ein Land allein macht. Wir Grüne sind überzeugt: Wenn es die Europäische Union nicht gäbe, wir müssten sie erfinden. Denn nur gemeinsam können wir den Klimawandel stoppen und bezahlbare Mobilität sichern. Die EU ist im Verkehrsbereich schon weiter als Deutschland: Die Europäische Kommission hat bereits im 2011 vorgelegten „Weißbuch Verkehr“ das Ziel ausgegeben, bis 2050 mindestens 60 Prozent weniger Treibhausgase als 1990 im Verkehrssektor auszustoßen. Das Europäische Parlament hat zudem mit breiter Mehrheit gefordert, bereits bis 2020 ein Zwischenziel von minus 20 Prozent anzusteuern.

Das zeigt: Die EU ist bei einer nachhaltigen Verkehrspolitik der deutschen Bundesregierung einen Schritt voraus. Denn in Deutschland sind solche klaren, langfristigen Vorgaben bisher leider Fehlanzeige. Ausruhen können wir uns trotz dieser Erfolge nicht, denn vieles läuft nach wie vor verkehrt. Die umweltfreundliche Mobilität wird gegenüber der umweltschädlichen benachteiligt. Das muss sich ändern, denn sonst ist der Beschluss des Weißbuches nichts weiter als ein schönes Zahlenwerk, das in der Schublade verschwindet.

Zwar haben wir Grüne es geschafft, dass die umweltfreundliche Bahn Vorfahrt bei der Nutzung der EU-Finanzmittel hat. Doch obwohl 90 Prozent der Bahnkunden auf Strecken unter 50 Kilometer unterwegs sind, ist das europäische Bahnnetz noch immer ein Flickenteppich — mit Lücken genau an den Grenzen. Weil auch 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges der größte Teil der Gelder weiterhin in wenig sinnvolle Großprojekte fließt. Wie zum Beispiel der Brenner-Basistunnel, die Feste Fehmarnbelt-Querung oder der Tunnel durch die Alpen zwischen Lyon und Turin. Während der Nutzen dieser langfristigen Projekte viele Jahre lang gegen Null tendiert, explodieren die Kosten: Für den Tunnel Lyon – Turin geht zum Beispiel der französische Rechnungshof davon aus, dass die Kosten von den veranschlagten 12 auf 26 Milliarden Euro steigen — ohne dass daraus bisher Konsequenzen gezogen würden. Viele kleine Projekte sind wegen fehlender Finanzen gestrichen worden — aber kein einziges Milliardenprojekt!

Deshalb ist zu fordern: Grips statt Beton! Lasst uns zunächst die Lücken in Europa, die durch Krieg und Nachkriegszeit entstanden sind, schließen — überall da, wo wenig Geld große Wirkung zeigen kann. Und lasst uns in die tägliche Mobilität der Menschen in Europa investieren, anstatt größenwahnsinnige Megaprojekte zu finanzieren.

Als trauriges Beispiel können die Bahnverbindungen zwischen Polen und Deutschland dienen. Mit vergleichsweise wenig Geld könnte viel für den grenzüberschreitenden Verkehr in Europa getan werden. Insbesondere die Strecken Berlin – Swinemünde, Berlin – Stettin und Berlin – Breslau haben ein großes Potential. Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte man mit der Bahn Breslau von Berlin aus in zweieinhalb Stunden erreichen. Heute dauert die Fahrt fünfeinhalb Stunden! Polen hat die Strecke bereits bis zur polnisch-deutschen Grenze elektrifiziert und ertüchtigt. Ein schnellerer Betrieb scheitert bisher an der deutschen Bundesregierung, die das Stück von Cottbus über Spremberg bis zur Grenze — das dann auch Cottbus besser anbindet — nicht ausbauen will. Mittlerweile ist der Eurocity „Wawel“ von Hamburg über Berlin nach Breslau eingestellt worden und anschließend auch die Verbindung von Dresden nach Breslau. Deshalb ist Breslau als Europäische Kulturhauptstadt 2016 von Deutschland kaum noch mit dem Zug erreichbar. Kein Wunder: Wegen der
Vernachlässigung der Schienenstrecke fährt der Fernbus der Deutschen Bahn AG die gleiche Strecke schneller — nämlich in nur dreieinhalb Stunden — und ist dabei günstiger.

Dasselbe gilt für Berlin – Stettin — dort fehlen 30 Kilometer Elektrifizierung — oder für Berlin – Swinemünde, wo die von deutschen Truppen in den letzten Kriegstagen zerstörte Karniner Hubbrücke noch immer nicht repariert wurde. Allein diese drei Verbindungen zu unserem östlichen Nachbarn kosten zusammen lediglich 300 Millionen Euro. Dafür fehlt angeblich das Geld — aber für den neuen Tief-Bahnhof mit der Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm sind insgesamt 10 Milliarden Euro kein Problem, obwohl die Fahrzeit nach Ulm lediglich um 30 Minuten verkürzt wird. Zudem widerspricht der Tiefbahnhof wegen seiner starken Neigung den EU-Normen, und die Neubaustrecke ist für schwere Güterzüge nicht nutzbar, weil sie steiler ist als die Geislinger Steige. Hier sieht man überdeutlich, dass langfristige Großprojekte mit nur geringem Nutzen für die Kunden offensichtlich wichtiger sind als das Zusammenwachsen von Europa. Wer so die Prioritäten setzt, darf sich nicht wundern, wenn der umweltfreundliche Schienenverkehr auf keinen grünen Zweig kommt.

Mit dem Vierten Eisenbahnpaket ist die EU auf dem Weg, die technischen Hürden zu verringern und möglicherweise viel Geld zu sparen. Insofern begrüße ich es, dass die Verkehrsminister der EU-Mitgliedstaaten sich nach Verhandlungen von über einem Jahr unter der luxemburgischen Ratspräsidentschaft nach dem technischen auch auf eine Position zum politischen Teil des Vierten Eisenbahnpakets geeinigt haben (siehe Bericht unten). Nun können die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat (der Verkehrsminister) die abschließende Rechtssetzung verhandeln. Wichtig ist, wenn schon Netz und Betrieb nicht sauber getrennt werden, dass die Finanzströme innerhalb der Eisenbahnkonzerne transparent werden, um Steuergelder effizienter für einen besseren, umweltfreundlichen Schienenverkehr einzusetzen und um zu verhindern, dass mit dem Geld aus der Infrastruktur Wettbewerber aufgekauft oder Busunternehmen in den USA oder Kanada erworben werden.

Der technische Teil des Vierten Eisenbahnpaketes bietet die Möglichkeit, den Eisenbahnmarkt der Europäischen Union weiter zu harmonisieren und den Flickenteppich zu überwinden. Zurzeit gibt es über 11 000 europäische und nationale Regeln für die technische Sicherheit im Schienenverkehr. Es braucht oft zwei Jahre und kostet bis zu sechs Millionen Euro pro Fahrzeugtyp, um ein neues Schienenfahrzeug zuzulassen. So hat es die Bahn schwer, gegenüber dem Lkw Marktanteile zu gewinnen. Die Harmonisierungen sollen den Zeitaufwand und die Kosten um 20 Prozent senken. Für einen Zeitraum von fünf Jahren wären das Einsparungen von rund 500 Millionen Euro für die europäischen Eisenbahnkonzerne. In den Verhandlungen von Kommission, Rat und Parlament muss sich zeigen, ob den Bekenntnissen zur Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene auch Taten folgen.

Auf der Straße hingegen offenbart sich mit der Volkswagen-Abgasaffäre einer breiteren Öffentlichkeit nicht nur die kriminelle Manipulation der Abgastests, sondern auch die Tatsache, dass selbst die ordnungsgemäßen Abgasmessungen schon lange nicht mehr der Realität entsprechen. Ob dieser Skandal zum Umdenken anstößt, ist noch offen: Das Europäische Parlament hat sich in seiner Resolution zur Abgasaffäre dazu bekannt, dass die Fahrzeuge der Autohersteller EU-weit überprüft werden und die Abgasmessungen unter realen Bedingungen durchgeführt werden sollen. Den Dieselmotor weiterhin als saubere Technologie zu bezeichnen und steuerlich zu bevorteilen, scheint spätestens nun nicht mehr gerechtfertigt zu sein.

Auch die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten sind bereit, die Abgastests unter realen Bedingungen durchführen zu lassen, wollen aber im Gegenzug die Grenzwerte hochsetzen. Damit nehmen sie eine fortwährende Gefährdung der Gesundheit in Kauf. Das Europäische Parlament muss dagegen ein Veto einlegen und einen Untersuchungsausschuss einsetzen, der analysiert, wie es so weit kommen konnte. Das europäische Auto wird nur eine Zukunft haben, wenn die Schadstoffemissionen drastisch verringert werden. Das müssen die Autohersteller in der EU begreifen; sonst werden andere die Chance nutzen, und mit sparsamen und emissionsarmen/-losen Modellen auf den Markt drängen. Zudem dürfen die Folgekosten nicht länger auf die Gesellschaft abgeladen werden. Die Notwendigkeit der „Internalisierung der externen Kosten“ wird seit Jahren EU-weit unterstützt — aber die Umsetzung jedoch blockiert.

Im Flugverkehr werden ebenfalls Steuergelder verbrannt. Nicht nur die Regionalflughäfen von Kassel über Hof bis Lübeck machen hohe Verluste. Von den 23 internationalen Flughäfen in Deutschland sind 17 defizitär. Aber der Eurocity-Zug „Wawel“ von Hamburg über Berlin nach Breslau wird eingestellt, weil er nicht subventioniert werden durfte. Das ist verrückt, aber die traurige Realität. Trotzdem bekommt der Flugverkehr in der EU jedes Jahr Steuergeschenke in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro. Diese Dauer-Subvention für Vielflieger und Manager ist unökologisch und unsozial, sie gehört auf den Schleudersitz. Wenn die europäischen Bahnen dieses Geld nur zehn Jahre lang bekämen, hätten wir ein hervorragendes Netz, billige Tickets und damit den umweltschädlichen Flugverkehr erheblich reduziert.

Sehr kritisch sehe ich auch das geplante EU-US-Freihandelsabkommen TTIP. Die Verhandlungen finden hinter verschlossenen Türen statt, untergraben die Mitspracherechte der Parlamente und bedrohen das Rechtssystem. Und im Verkehrsbereich haben US-Fluggesellschaften wiederholt erfolgreich das EU-Recht ausgehebelt: So wurde nicht nur der Emissionshandel für den Luftverkehr wieder ausgesetzt, sondern auch der Lärmschutz an Flughäfen geschwächt.

Gerade der Lärmschutz ist eine unterschätzte Herausforderung der europäischen Verkehrspolitik. Der Lärm bedroht die Gesundheit und muss deswegen angegangen werden. Dank des hartnäckigen Einsatzes der Grünen stellt die EU nun Gelder für die Nachrüstung von Güterwaggons mit leiseren Bremsen zur Verfügung und hat von einer weiteren Abschwächung des Schutzes vor Fluglärm Abstand genommen. Die Flughäfen und Fluggesellschaften müssen die Risiken des Lärms und die Folgen der gestörten Nachtruhe ernst nehmen. Denn nur wer gut schläft, kann gut arbeiten! Zugleich wird es nur gelingen, Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern, wenn die Bahnen glaubwürdig für mehr Lärmschutz sorgen. Eine Möglichkeit wäre, Gebühren für Landebahnen und Trassen nicht nur lärmabhängig zu erheben, sondern die Preise für laute Züge und Flugzeuge spürbar zu erhöhen, damit es sich auch wirtschaftlich nicht mehr lohnt, diese zu betreiben. Deshalb ist die Vereinbarung im Koalitionsvertrag der deutschen Regierungsparteien zu begrüßen, ab 2020 die lauten Güterwaggons zu verbieten. Wenn das in Deutschland realisiert wird, wird es auch EU-weit durchgesetzt.

Ein weiteres wichtiges Thema für die Grünen ist der Verbraucherschutz; im Verkehr sind das unter anderem die Passagierrechte. EU-weit haben wir sie für alle Verkehrsmittel durchgesetzt. Leider gelten sie nicht gleichermaßen: Hat man bei der Bahn bereits nach einer Stunde Verspätung einen Anspruch auf Entschädigung, gibt es diesen beim Flugzeug auf Kurzstrecken erst nach drei Stunden. Wir Grüne wollen alle Verkehrsträger gleich behandeln, doch die Mehrheit im Europäischen Parlament ist dagegen.

Unser Engagement im Europäischen Parlament trägt Früchte — für das Klima, für die Verbraucher und für bezahlbare Mobilität. Aber es gibt noch viel zu tun, um den Kurs auch im Verkehr in Richtung Nachhaltigkeit zu lenken! Ich bin überzeugt: Wir können die Mobilität sichern und das Klima schützen. Dann — und nur dann — haben auch unsere Kinder und deren Kinder eine Perspektive, auf diesem Planeten zu leben.

Mehr über meine Vision einer nach-haltigen europäischen Verkehrspolitik erfahren Sie auf meiner Webseite unter www.michael-cramer.eu beziehungsweise in meiner Broschüre „Die europäische Verkehrswende: sauber, sicher & bezahlbar“ unter www.michael-cramer.eu (PDF).