Herausforderungen für eine nachhaltige und bezahlbare Mobilität in der EU

24. Mai 2018 zur Übersicht

Artikel erschienen in "SÜDOSTGRÜN– Ausgabe 01/18" der Zeitung von Bündnis 90/die Grünen Treptow-Köpenick

Von Michael Cramer

Wie können wir in Zukunft nachhaltig und bezahlbar mobil sein? Mobil zu sein ist eine Grundvoraussetzung, um an Aktivitäten der Gesellschaft teilnehmen zu können. Doch: Ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen können. Warum? Konnte der CO2-Ausstoß in der europäischen Industrie seit 1990 um 38% verringert werden, ist er im Verkehr im selben Zeitraum um 28 % gestiegen. Damit frisst der Verkehr all das doppelt und dreifach auf, was in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde. In den Städten ist der Verkehr mit 70 % sogar der größte Verursacher der klimaschädlichen Emissionen. Diese Fehlentwicklung können wir in Deutschland allein nicht umkehren.
Die gute Nachricht: Die kurzen Distanzen in den Städten bieten optimales Potential zum Umstieg auf den Umweltverbund aus Zufußgehen, Rad und öffentlichem Verkehr. Denn 90 % aller Autofahrten in den Städten sind kürzer als sechs Kilometer. Dank neuer Technologien wie Smartphones können wir die verschiedenen Verkehrsmittel heute clever kombinieren. Doch es reicht nicht, wenn es eine Stadt/ein Land allein macht. Wir Grüne sind überzeugt: Wenn es die Europäische Union nicht gäbe, wir müssten sie erfinden. Denn nur gemeinsam können wir den Klimawandel stoppen und bezahlbare Mobilität sichern. Die EU ist im Verkehrsbereich schon weiter als Deutschland: Die Europäische Kommission hat sich bereits im 2011 vorgelegten „Weißbuch Verkehr“ das Ziel ausgegeben, bis 2050 mindestens 60% weniger Treibhausgase als 1990 im Verkehrssektor auszustoßen. Das Europäische Parlament hat zudem mit breiter Mehrheit gefordert, bereits bis 2020 ein Zwischenziel von minus 20% anzusteuern. Das zeigt: Die EU ist bei einer nachhaltigen Verkehrspolitik der deutschen Bundesregierung mehrere Schritte voraus. Denn in Deutschland waren solche Ziele lange Zeit Fehlanzeige; erst seit einiger Zeit hat sich die Bundesregierung darauf verständigt, im Verkehr 40% CO2 bis 2030 einzusparen. Die bereits von der Bundesregierung selbst auferlegten Gesamtklimaziele von 40% weniger CO2-Ausstoß gegenüber dem Niveau von 1990 bis 2020 wird Deutschland kaum einhalten können – die Emissionen steigen insgesamt wieder. Das muss sich ändern, denn sonst ist sowohl der Beschluss des EU-Weißbuches als auch die Ziele der Koalitionim Bund nichts weiter als ein schönes Zahlenwerk, das in der Schublade verschwindet. Die umweltfreundliche Mobilität muss endlich gegenüber der umweltschädlichen zumindest gleichgestellt, besser sogar bevorzugt werden. Zwar haben wir Grüne es geschafft, dass die umweltfreundliche Bahn Vorfahrt bei der Nutzung der EU-Finanzmittel hat. Doch obwohl 90% der Bahnkunden auf Strecken unter 50 Kilometer unterwegs sind, ist das europäische Bahnnetz noch immer ein Flickenteppich – mit Lücken genau an den Grenzen. Weil auch 28 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges der größte Teil der Gelder weiterhin in wenig sinnvolle Großprojekte fließt: sei es der Brenner-Basistunnel, die feste Fehmarnbelt-Querung oder der Tunnel durch die Alpen zwischen Lyon und Turin. Während der Nutzen dieser langfristigen Projekte viele Jahre lang gegen Null tendiert, explodieren die Kosten: Für den Tunnel Lyon-Turin geht zum Beispiel der französische Rechnungshof davon aus, dass die Kosten von den veranschlagten zwölf auf 26 Milliarden Euro steigen – ohne dass das irgendwelche Konsequenzen hätte. Viele kleine Projekte sind wegen fehlender Finanzen gestrichen worden – aber kein einziges Milliardenprojekt!


Als trauriges Beispiel können die Bahnverbindungen zwischen Polen und Deutschland dienen. Mit vergleichsweise wenig Geld könnte viel für den grenzüberschreitenden Verkehr in Europa getan werden. Insbesondere die Strecken Berlin–Swinemünde, Berlin–Stettin und Berlin–Breslau haben ein großes Potential. Vor dem Krieg konnte man mit der Bahn Breslau von Berlin aus in zweieinhalb Stunden erreichen. Heute dauert die Fahrt mit der Bahn fünfeinhalb Stunden. Der Fernbus benötigt für die gleiche Strecke nur dreieinhalb Stunden und ist günstiger. Polen hat die Strecke bereits bis zur polnisch-deutschen Grenze elektrifiziert und ertüchtigt. Ein schnellerer Betrieb scheitert bisher an der deutschen Bundesregierung, die das Stück von Cottbus über Spremberg bis zur Grenze – das dann auch Görlitz besser anbindet – nicht ausbauen will. Mit nur 100 Mio. Euro würde die Fahrzeit um 2,5 Stunden verkürzt und der Kulturzug müsste als Dieselzug von den 350 Kilometern nicht mehr 300 Kilometer unter dem Fahrdraht fahren. Dasselbe gilt für Berlin-Stettin – dort fehlen 30 Kilometer Elektrifizierung – oder für Berlin –Swinemünde, wo die von deutschen Truppen in den letzten Kriegstagen zerstörte Karniner Hubbrücke noch immer nicht repariert wurde. Allein diese drei Verbindungen zu unserem östlichen Nachbarn kosten zusammen lediglich 300 Millionen Euro. Dafür fehlt angeblich das Geld – aber das 10 Milliarden-Euro-Projekt „Stuttgart 21“, mit dem die Fahrzeit nach Ulm um lediglich wenige Minuten verkürzt wird, scheint wichtiger zu sein als das Zusammenwachsen von Europa. Wer so die Prioritäten setzt, darf sich nicht wundern, wenn der Schienenpersonenfernverkehr auf keinen grünen Zweig kommt. Daher ist es ein kleiner Erfolg, dass die Kommission 2017 beschlossen hat, aus der EU-Förderung für Verkehrsprojekte explizit Lückenschlüsse zu kofinanzieren, die grenzüberschreitend sind. Zunächst stellte sie 110 Millionen Euro bereit. Es gab 18 Bewerbungen. Darauf erhöhte die Kommission den Betrag auf 140 Millionen Euro.

Mit dem Vierten Eisenbahnpaket hat die EU die technischen Hürden verringert: Zurzeit gibt es über 11 000 europäische und nationale Regeln für die technische Sicherheit im Schienenverkehr. Es braucht oft zwei Jahre und kostet bis zu sechs Millionen Euro pro Fahrzeugtyp, um ein neues Schienenfahrzeug zuzulassen. So hat es die Bahn schwer, gegenüber dem Lkw Marktanteile zu gewinnen. Die Harmonisierungen im Eisenbahnpaket sollen den Zeitaufwand und die Kosten um 20% senken. Auf der Straße hingegen offenbart sich mit dem Abgasskandal einer breiteren Öffentlichkeit nicht nur die kriminelle Manipulation der Abgastests sondern auch die Tatsache, dass die Abgasmessungen schon lange nicht mehr der Realität entsprechen. Ein Umdenken ist bisher nicht wirklich zu erkennen: Das Europäische Parlament hat sich in seiner Resolution zur Abgasaffäre dazu bekannt, dass die Fahrzeuge der Autohersteller EU-weit überprüft werden und die Abgasmessungen unter realen Bedingungen durchgeführt werden sollen. Ob der Dieselmotor als „saubere Technologie“ für Pkw auch weiterhin durch Steuerminderung von 18 EuroCent pro Liter subventioniert wird, steht in den Sternen – obwohl das Umweltbundesamt 6.000 vorzeitige Todesfälle durch die Stickoxid-Emissionen beklagt. Derweil hat der Untersuchungsausschuss  des  Europäischen  Parlaments  zum  Abgasskandal EU-weites Versagen der Kontrollbehörden festgesellt, jedoch lehnte eine Mehrheit im Europäischen Parlament eine finanziell unabhängige Kontrollinstitution ab. Damit ist offen, ob solche Skandale zukünftig unterbunden werden können. Das europäische Auto wird nur eine Zukunft haben, wenn die Schadstoffemissionen drastisch verringert werden. Das müssen die Autohersteller in der EU begreifen; sonst werden andere die Chance nutzen, und mit sparsamen und emissionslosen Modellen auf den Markt drängen. Zudem dürfen die Folgekosten nicht länger auf die Gesellschaft abgeladen werden, um die Schäden der Gesundheit auszubügeln – wenn das überhaupt noch möglich ist. Die Notwendigkeit der „Internalisierung der externen Kosten“ wird seit Jahren EU-weit unterstützt – aber die Umsetzung wird blockiert.

Im Flugverkehr werden ebenfalls Steuergelder verbrannt. Nicht nur die Regionalflughäfen von Kassel über Hof bis Lübeck machen hohe Verluste. Von den 23 internationalen Flughäfen in Deutschland sind 17 defizitär. Trotzdem bekommt der Flugverkehr in der EU jedes Jahr Steuergeschenke in Höhe von etwa 30 Milliarden Euro, weil der Flugverkehr – im Gegensatz zur umweltfreundlichen Bahn, deren Kunden das alles bezahlen müssen – von der Kerosinsteuer und auf internationalen Relationen von der Mehrwertsteuer befreit ist. Diese Dauer-Subvention für Vielflieger und Manager ist unökologisch und unsozial, sie gehört auf den Schleudersitz. Wenn die europäischen Bahnen dieses Geld nur zehn Jahre lang bekämen, hätten wir ein hervorragendes Netz, billige Tickets und damit den umweltschädlichen Flugverkehr erheblich reduziert. Der Lärmschutz ist bisher eine unterschätzte Herausforderung der europäischen Verkehrspolitik. Der Lärm bedroht die Gesundheit und muss deswegen angegangen werden. Dank des hartnäckigen Einsatzes der Grünen stellt die EU nun Gelder für leisere Güterwaggons zur Verfügung und hat von einer weiteren Abschwächung des Schutzes vor Fluglärm Abstand genommen. Die Flughäfen und Fluggesellschaften müssen die Risiken des Lärms und die des Verlustes der Nachtruhe ernst nehmen. Nur wer gut schläft, kann gut arbeiten! Zugleich wird es nur gelingen, Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern, wenn die Bahnen glaubwürdig für mehr Lärmschutz sorgen. Eine Möglichkeit wäre, Gebühren für Landebahnen und Trassen nicht nur lärmabhängig zu erheben, sondern die Preise für laute Züge und Flugzeuge zu erhöhen, damit es sich auch wirtschaftlich nicht mehr lohnt, diese zu betreiben. Ein weiteres wichtiges Thema für die Grünen ist der Verbraucherschutz; im Verkehr sind das die Passagierrechte. EU-weit haben wir sie für alle Verkehrsmittel durchgesetzt. Leider gelten sie nicht gleichermaßen: Hat man bei der Bahn bereits nach einer Stunde Verspätung einen Anspruch auf Entschädigung, gibt es diesen beim Flugzeug auf Kurzstrecken erst nach drei Stunden. Wir Grüne wollen alle Verkehrsträger gleich behandeln, doch die Mehrheit im Europäischen Parlament ist dagegen und will jetzt sogar die Fahrgastrechte bei der Bahn denen des Flugzeuges anpassen. Das Ergebnis ist noch offen und wird gerade im Europäischen Parlament und danach mit dem Fachminister-Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten verhandelt. Engagement im Europäischen Parlament trägt Früchte – für das Klima, für die Verbraucher und für bezahlbare Mobilität. Aber es gibt noch viel zu tun, um den Kurs auch im Verkehr auf Nachhaltigkeit zu lenken! Ich bin überzeugt: Wie können die Mobilität sichern und das Klima schützen. Dann – und nur dann – haben auch unsere Kinder und deren Kinder eine Perspektive, auf diesem Planeten zu leben.