Cramer: Dezentralität der Stadt nicht berücksichtigt
Moderation: Birgit Kolkmann
Der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Michael Cramer, hat das Konzept des Berliner Hauptbahnhofs kritisiert. Man habe bei der Planung die Stadtstruktur in Berlin überhaupt nicht berücksichtigt, sagte Cramer.
Birgit Kolkmann: Im märkischen Sand siegte Beton, Stahl und Glas über das Wasser. Die Spree wurde verlegt, um einen gigantischen Bahnhof aus Boden und Grundwasser zu stampfen. Jetzt steht er da, der erste Berliner Hauptbahnhof mitten in der Wüste der alten Mauerzone und soll Ost und West, Nord und Süd verbinden, Europas größter Kreuzungsbahnhof. 700 Millionen Euro teuer ist das Verkehrsprojekt der Superlative und ziemlich umstritten wegen seiner Lage, wegen des Verkehrskonzeptes, das Bahnhof Zoo, Ostbahnhof und Bahnhof Friedrichstraße vom internationalen Fernverkehr abkoppelt. Und nicht zuletzt umstritten, was die Bahn aus dem Entwurf des Architekten Von Gerkan machte, der schon den Flughafen Tegel baute und nun ansehen musste, wie Bahnchef Mehdorn höchstpersönlich das Glasdach über den Gleisen um 130 Meter kürzen ließ. Jetzt sieht der Bahnhof, der heute Abend mit großem Brimborium und Feuerwerk eingeweiht wird, aus wie ein Torso. Michael Cramer ist verkehrspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Europaparlament. Ihn begrüße ich in der Ortszeit von Deutschlandradio Kultur, schönen guten Morgen.
Michael Cramer: Schönen guten Morgen.
Kolkmann: Sind Sie glücklich mit dem Bahnhofsgiganten neben dem Regierungsviertel?
Cramer: Nein. Ich habe ja vor zehn Jahren als Abgeordneter hier im Berliner Abgeordnetenhaus diese Konzeption stark bekämpft. Und ich hatte auch gute Gründe dafür, denn wir haben in Berlin eine dezentrale Stadtstruktur. Und Berlin ist etwa so groß wie das Ruhrgebiet von Düsseldorf bis Bochum, von der holländischen Grenze bis zum Sauerland. Und in diese dezentrale Stadtstruktur einen Zentralbahnhof zu implantieren, wäre ungefähr so, als wenn man in Wanne-Eickel einen Hauptbahnhof baut und dafür die Hauptbahnhöfe Düsseldorf, Essen und Bochum stilllegt. Da hätte jeder darüber gelacht und zu Recht. Aber in Berlin ist das realisiert worden.
Kolkmann: Nun ist der Koloss da, ungeliebt schon jetzt bei den Bahnnutzern und manchen Berliner Bürgern. Was kann man denn noch daraus machen?
Cramer: Also zunächst mal ist es so: Milliarden werden normalerweise ausgegeben, damit man schneller durch die Stadt fährt. Die Züge fahren in der Tat zehn Minuten schneller. Aber für die Fahrgäste - und 95 Prozent aller Fahrgäste in Berlin steigen ein oder aus, es ist nicht so, als würde man umsteigen zwischen Stockholm und Palermo und Paris und Moskau - und für die ist der Weg jetzt viel länger, für die meisten Fahrgäste. Und das Einzige, was ich mir vorstellen kann, was man jetzt noch machen muss, damit Zoo, Ostbahnhof, übrigens Schönefeld und Friedrichstraße, nicht abgekoppelt werden, dass wir auf der Stadtbahn einen Mix machen. Denn wir haben in Berlin die Situation - nicht wie in Paris, in Paris haben wir nur Kopfbahnhöfe und keine Verbindung durch die Stadt -, in Berlin haben wir einen Ring und eine Ost-West-Verbindung. Und jetzt haben wir zusätzlich eine Nord-Süd-Verbindung. Und dass wir sagen: Auf der Stadtbahn, also der Ost-West-Verbindung, fahren ICE-Züge und Regionalverkehr und im Tunnel und über den Lehrter Bahnhof unten fahren auch Regionalverkehre und ICE-Verkehre, dann würden wir der Dezentralität gerecht werden.
Kolkmann: Das Verkehrskonzept setzt ja aber nun im Augenblick auf den Kreuzungsbahnhof - Sie sprachen es an: die Verbindung Stockholm-Palermo-Berlin-Moskau, das hört sich toll an. Ist das aber nicht die ganz große europäische Verkehrszukunft?
Cramer: Die Verbindung ja. Aber wer fährt heute mit der Eisenbahn von Stockholm nach Palermo oder von Paris nach Moskau? Und wie gesagt, vor dem Krieg stiegen sogar 97 Prozent in Berlin ein oder aus. Die Bahn hat selber berechnet, das werden in der Zukunft 95 Prozent sein. Und damit liegen sie richtig. Und man muss den Fahrgästen gerecht werden und nicht einer schönen Fantasie. Also "think big", das war in Berlin das Leitmotiv - alles, was groß ist, ist per se schon mal gut. Aber die Fahrgäste haben darunter zu leiden. Und deshalb gibt es ja auch die vielen Unterschriften. Nicht, weil man nostalgisch am Bahnhof Zoo hängt, sondern weil man nicht einsieht, wenn man nach Westen fährt, dass man immer nach Osten fährt und dann wieder zurück.
Kolkmann: Nun geht es ja auch darum, wenn wir den großen Flughafen in Berlin Schönefeld haben werden, wie da die Anbindung an die Bahn ist. Da versucht man ja in anderen Städten, das möglichst nah und deckungsgleich aneinander zu bringen, damit alles auch schnell geht. Wie sieht das denn mit dem neuen Hauptbahnhof, dem Lehrter Bahnhof in Berlin, aus?
Cramer: Ja moderne Flughäfen wie Frankfurt am Main, die werden an das Hochgeschwindigkeitsnetz der Bahn angebunden. Frankfurt am Main und Schönefeld waren in der Vergangenheit die einzigen ICE-Bahnhöfe oder die einzigen Flughäfen mit ICE-Anschluss. In Frankfurt wurden Milliarden investiert, um das zu optimieren. In Berlin wurden Milliarden investiert, um das zu zerstören, was da war. Denn das neue Eisenbahnkonzept ist mit dem Flughafen Schönefeld nicht kompatibel. Das ist ein großer Nachteil und daher sieht man schon, dass es keine Modernität ist. Ein weiterer Nachteil ist, dass wir auch keinen Voll-ceck-in haben im Bahnhof, im Lehrter Bahnhof oder im Hauptbahnhof, dass man da schon einchecken kann, wenn man zum Flughafen fährt. Und natürlich, eine Fahrradstation - hat heute jeder Bahnhof -, auch die fehlt dort.
Kolkmann: Nun, Sie sprachen eben die Hochgeschwindigkeit an. Wie sieht es denn da eigentlich aus mit der Anbindung nach Polen und nach Süden?
Cramer: Nach Polen, also wir haben die Strecke zwischen Frankfurt/Oder und Warschau wenigstens für 160 Stundenkilometer ausgebaut und modernisiert. Berlin-Frankfurt/Oder fehlt noch. Die Brücke über die Oder hat man bei der Planung innerhalb von 15 Jahren leider vergessen. Das ist ärgerlich. Nach Süden, die Dresdener Bahn ist verschlafen. Also dass wir praktisch schnell von Berlin über Dresden, Prag, Budapest, diese Relation, und auch die nach Kattowitz, Krakau und Breslau, die ist auch noch nicht im Betrieb. Dafür setze ich mich ein, wenn wir eine europäische Metropole werden im wieder vereinigten Europa - auch in Europa muss zusammenwachsen, was zusammengehört.
Kolkmann: Schließlich noch der Börsengang der Bahn, der ja angestrebt ist. Da schaut man ja auch aus Brüssel, von Europa aus darauf. Wie sollte der nun aussehen? Schienennetz und Betrieb zusammen oder getrennt, wie es die EU-Kommission befürwortet?
Cramer: Also zunächst mal sagen wir nach den Erfahrungen in Großbritannien - übrigens auch in Neuseeland -: Die Infrastruktur muss in öffentlicher Hand bleiben. Und wir müssen aufpassen, gerade nach den Erfahrungen in Berlin mit der Bankgesellschaft, bei Mischbetrieben: Wenn etwas privatisiert werden soll, von mir aus die Bahn als Betreiber, dann soll sie es zu 100 Prozent machen, aber nicht immer den Staat im Rücken haben, so tun, als wäre sie ein privates Unternehmen, aber letztlich immer den Staat im Rücken zu haben, der nicht pleite gehen kann. Das verleitet zum Schuldenmachen. Das haben wir in Berlin mit der Bankgesellschaft erlebt und wir sollten es in Deutschland mit der Deutschen Bahn AG vermeiden.
Kolkmann: Michael Cramer, der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Europaparlament zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofes heute Abend.