Glaspalast mit Wüste

22. Mai 2006 zur Übersicht

Beitrag von Michael Cramer in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über die Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs.

Ein Platz für Autofahrer

Mehr als zehn Milliarden Euro wurden seit dem Fall der Mauer für die Modernisierung der Eisenbahn-Infrastruktur in Berlin ausgegeben. Allein der neue Hauptbahnhof kostete 700 Millionen. Veranschlagt waren ursprünglich 350 Millionen. Die Vorteile der Mehrausgaben zu erkennen fällt schwer. Die Züge fahren jetzt zwar zehn Minuten schneller durch die Stadt, doch die meisten Fahrgäste brauchen künftig zwanzig Minuten länger für den Weg zum Bahnhof.

Architektonisch ist der Bau gelungen. Er sähe jedoch noch besser aus, wenn nicht im letzten Moment oben das Glasdach amputiert und unten die geschwungene Deckenkonstruktion durch eine 08/15-Variante ersetzt worden wäre.

Der Bau des Zentralbahnhofs war umstritten. Zu Beginn der neunziger Jahre standen sich in Berlin die Befürworter des Achsenkreuzkonzepts und die des Ringkonzepts gegenüber. Im Gegensatz etwa zu Paris hatte Berlin nicht nur einen Ring, sondern auch eine Durchbindung in Ost-West-Richtung, die zu Mauerzeiten allerdings unterbrochen war. Die zentrale Frage lautete aber 1989: Soll die Modernisierung und Elektrifizierung der jahrzehntelang ungenutzten, brachgelegenen Infrastruktur Priorität bekommen oder eine neue Nord-Süd-Verbindung mit einem Kreuzungsbahnhof im Niemandsland des Mauerstreifens?

Die Berliner Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex wollte "alles, und zwar sofort". Die Wiederherstellung der Infrastruktur plus Nord-Süd-Tunnel plus Kreuzungsbahnhof - und selbstverständlich auch noch eine unterirdische Schnellstraße dazu.

Die dafür veranschlagten Kosten in Höhe von insgesamt zehn Milliarden Euro waren der Bundesregierung zu hoch. Sie beschied dem Berliner Senat, er solle sich mit der Hälfte zufrieden geben.

Vor die Wahl gestellt, entweder dem Eisenbahnring oder dem Nord-Süd-Tunnel plus Kreuzungsbahnhof den Vorzug zu geben, entschieden sich CDU, SPD und Bahn für letzteres - leider. Die Entscheidung wird einer Stadt wie Berlin nicht gerecht. Denn die Metropole an der Spree hat eine Ausdehnung wie das Ruhrgebiet von Düsseldorf bis Bochum, von der holländischen Grenze bis zum Sauerland. In diese dezentrale Stadtstruktur einen Zentralbahnhof zu implantieren, war ungefähr genauso intelligent, als ob in Wanne-Eickel ein Zentralbahnhof gebaut und die Hauptbahnhöfe Essen, Dortmund und Bochum vom ICE-Verkehr abgekoppelt würden.

Über diesen Vergleich haben CDU und SPD damals gelacht, heute weinen sie Krokodilstränen, weil die Bahnhöfe Zoo und Ostbahnhof vom ICE-Verkehr abgekoppelt und zu Haltepunkten des Regionalverkehrs degradiert werden. Senat und Bahn träumten vom Kreuzungsbahnhof für umsteigende Reisende zwischen Stockholm-Palermo und Paris-Moskau. Mißachtet haben sie aber, wider besseres Wissen, daß 95 Prozent der Fahrgäste in Berlin ein- oder aussteigen.

Die Verschiebung der bestehenden Ost-West-Achse in eine Nord-Süd-Richtung bringt kaum zusätzliche Fahrgäste. Denn für den neuen Zentralbahnhof im Niemandsland des ehemaligen Mauerstreifens fehlt eine leistungsstarke Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, insbesondere durch S- und U-Bahn-Linien in Nord-Süd-Richtung.

Zwar sollten diese Defizite beim neuen Hauptbahnhof durch den Bau einer neuen Regionalbahn (Stammbahn), einer S-Bahn (S 21), einer U-Bahn (U 5) und einer Straßenbahnstrecke behoben werden. Doch schon damals war klar, daß die dafür notwendigen drei Milliarden Mark nicht aufgebracht werden können.

Heute müssen wir feststellen, daß für diese vier Linien zwar insgesamt 300 Millionen Euro an "Vorleistungen" ausgegeben wurden, aber noch nicht einmal die Straßenbahnverlängerung zur Eröffnungsfeier realisiert ist. Pünktlich fertiggestellt sind hingegen zwei andere Projekte: der Straßentunnel unter dem Tiergarten und ein riesiges Parkhaus. Willkommen im "Autofahrer-Bahnhof".

Die sinnvolle Alternative, passend zur dezentralen Berliner Stadtstruktur, war das Ringkonzept mit dem Bahnhof Friedrichstraße in der Mitte der Stadt, der sogar näher am Reichstag liegt als der Lehrter Bahnhof. Statt Milliarden zu verbauen, hätten dort lediglich für zehn Millionen Euro die Bahnsteige für ICE-Züge verlängert werden müssen. Der Flughafenstandort Schönefeld wäre so an den nationalen und internationalen Eisenbahnverkehr optimal angebunden geblieben.

Mit dem Hauptbahnhof wird statt dessen der projektierte Flughafen Berlin-Brandenburg-International (BBI) vom ICE-Netz abgekoppelt. In Frankfurt am Main hat man gerade erst viel Geld dafür ausgegeben, Flugzeuge und Hochgeschwindigkeitszüge zu verbinden.

Normalerweise werden Milliarden investiert, um Fahrzeiten zu verkürzen. In Berlin wurden statt dessen die Reisezeiten verlängert. Denn die Planer hatten ignoriert, daß für den Fahrgast die Reisezeit mit dem Verlassen des Hauses beginnt und nicht erst am Bahnhof. Da man aber das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und die Fehlinvestitionen nicht ungeschehen machen kann, muß gerettet werden, was zu retten ist.

Notwendig ist deshalb ein Mix aus Regional- und Fernverkehr sowohl auf den Gleisen des Nordrings und im Tunnel als auch auf denen der Stadtbahn. Dann wäre es auch möglich, Ostbahnhof und Zoo als ICE-Bahnhöfe zu erhalten.

MICHAEL CRAMER.

Der Autor ist verkehrspolitischer Sprecher der Europafraktion der Grünen.