Zwischen dem bulgarischen Vidin und dem rumänischen Calafat wurde kürzlich eine neue Brücke über die Donau eröffnet. In diese Autobahnbrücke wurde nicht nur eine Eisenbahnlinie, sondern auch ein separater Fahrradstreifen für den Donau-Radweg integriert. Während hier ein nachbarschaftliches Zukunftsprojekt par excellence für das nachhaltige Zusammenwachsen von Europa realisiert wurde, vernachlässigt Deutschland die grenzüberschreitenden Bahnstrecken. Das demonstrieren die vielen Lücken im Schienennetz zu unseren Nachbarn - so wie auch die Tatsache, dass es 1972 noch 18 tägliche Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen gab, während es heute nur noch sechs sind.
?In den dreißiger Jahren benötigte der "Fliegende Schlesier" für die 320 Kilometer zwischen Berlin und Breslau zweieinhalb Stunden. Heute dauert es doppelt so lange. Um den früheren Zustand wieder herzustellen, müssten auf deutscher Seite von Cottbus über Forst bis zur Grenze lediglich 25 Kilometer ertüchtigt - das heißt, für höhere Geschwindigkeiten tauglich gemacht - und elektrifiziert werden. Dafür gibt es noch nicht einmal eine Planung.
?Beim längeren Umweg über Görlitz ist es noch schlimmer. Während Polen den Abschnitt von Breslau bis zur Grenze schon saniert und elektrifiziert hat, fehlt in Deutschland ein 50 Kilometer langer Fahrdraht, weshalb ein zweimaliger Lokwechsel nötig ist. Zwischen Berlin und Stettin besteht eine 30 Kilometer lange Elektrifizierungslücke. Deshalb muss in Angermünde auf eine Diesellok umgekuppelt werden. Für die 150 Kilometer benötigt man heute knapp zwei Stunden - wie vor dem Ersten Weltkrieg. Die Bundesregierung hat die eigentlich für 2016 geplante Ertüchtigung auf 2020 verschoben. Um die Strecke für eine Zuggeschwindigkeit von 160 Stundenkilometern tauglich zu machen und sie zu elektrifizieren, wären etwa 100 Millionen Euro nötig. Ungefähr die gleiche Summe braucht man, um 40 fehlende Kilometer über die Insel Usedom nach Swinemünde in Polen auszubauen. Dazu müsste die von deutschen Truppen in den letzten Kriegstagen gesprengte Karniner Brücke wiederhergestellt werden. Die heutige Fahrzeit aus Berlin zu seiner einstigen "Badewanne" an der Ostsee würde sich dadurch von vier auf zwei Stunden halbieren.
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An der deutsch-tschechischen Grenze wurde zwar schon 1991 der im Kalten Krieg geschlossene Grenzbahnhof Bayerisch Eisenstein von Bundeskanzler Kohl wiedereröffnet. Eine durchgehende Zugverbindung ohne Umsteigen nach Pilsen ist aber noch immer nicht möglich. Auch die seit 1861 existierende Eisenbahnverbindung zwischen Nürnberg und Prag gibt es nicht mehr, obwohl sie selbst während des Kalten Krieges betrieben wurde. Die 2009 von der DB AG eingerichtete Busverbindung war nur die Vorbereitung für die Einstellung der Zugverbindung im Jahr 2012. Auch eine Direktverbindung von München über Passau nach Prag gibt es nicht. Die ehrenamtliche "Ilztalbahn-Bürgerinitiative" hat zwar gegen enorme Widerstände zwischen Passau und Freyung einen Regelverkehr durchgesetzt, und vom tschechischen Grenzbahnhof Nové Údoli fahren die Züge auch nach Prag. Doch für den 20 Kilometer langen Lückenschluss auf deutscher Seite fehlt angeblich das Geld.
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Auch die Verbindungen zu unseren westlichen Nachbarn sind in beklagenswertem Zustand. Die Ertüchtigung der Gäubahn von Stuttgart nach Zürich fehlt ebenso wie die Elektrifizierung der Südbahn ins österreichische Bregenz. Und die von deutschen Truppen in den letzten Kriegstagen zerstörte Rheinbrücke für den Bahnverkehr zwischen Freiburg und Colmar ist noch nicht wieder aufgebaut worden.
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An Geldmangel kann es eigentlich nicht liegen. Zehn Milliarden Euro, die sich nach den bisherigen Erfahrungen locker verdoppeln können, stehen für "Stuttgart 21" zur Verfügung. Mit diesem Geld soll ein neuer Bahnhof gebaut werden, der nur halb so leistungsfähig ist wie der bestehende und der wegen seiner Schräglage nicht nur den EU-Normen widerspricht, sondern auch ein Gefährdungspotential darstellt. Zudem ist die Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm noch steiler als die existierende "Geislinger Steige" - so dass auch der neue Abschnitt für den Güterverkehr nicht geeignet ist. Dabei wäre eine rege Nutzung durch Güterzüge Voraussetzung für die Wirtschaftlichkeit der Strecke im EU-Korridor Paris-Bratislava.
?Trotzdem wird diese drei Milliarden Euro teure Neubaustrecke mit knapp 400 Millionen Euro von der EU kofinanziert. Diese Summe würde reichen, um die erwähnten Bahnverbindungen zwischen Deutschland und Polen vollständig zu finanzieren. Nicht nur verkehrspolitisch ist das blamabel. Europapolitisch ist vor allem die eisenbahntechnische Abschottung gegenüber unseren östlichen Nachbarn ignorant. Ohne die mutige und erfolgreiche Opposition von Solidarnosc mit Lech Walesa und der Charta 77 mit Václav Havel wäre der Eiserne Vorhang 1989 nicht gefallen und das gespaltene Deutschland nicht wiedervereinigt worden.