[Es gilt das gesprochene Wort]
Anrede,
für die Einladung, zu Ihrer Veranstaltung und die Gelegenheit, über Barrierefreie Mobilität, barrierefreies Leben und die wirtschaftlichen Chancen für Barrierefreiheit zu sprechen, möchte ich mich herzlich bedanken.
Gerade erst in der vergangenen Woche haben wir eine eindrucksvolle Demonstration von mehreren Tausend Menschen mit Behinderungen im EU-Viertel in Brüssel erleben können. Die Demonstranten haben mehr als eine Million Unterschriften an die Europäische Kommission überreicht, um mehr Rechte für Menschen mit Behinderungen in der EU einzufordern. Ich hoffe, dass ihr Anliegen damit mehr Gehör findet.
Als Sprecher der Grünen für Verkehrsangelegenheiten im Europäischen Parlament beschäftige ich mich oft mit den Problemen, die behinderte Personen im täglichen Leben mit Mobilitätseinschränkungen haben.
Mobilitätseinschränkungen erleben aber weit mehr Menschen als nur jene, die man gemeinhin als "Behinderte" bezeichnet.
Lassen Sie mich mit einigen allgemeinen Anmerkungen über Aspekte, Probleme und mögliche politische Lösungen auf diesem Gebiet beginnen. Ich möchte vor allem einen Blick auf die Dinge werfen, die die EU bereits angestrengt hat, um die mangelhafte Situation behinderter Personen zu verändern, aber auch auf jene Dinge, in denen die EU versagt hat - im Allgemeinen und im Besonderen auf dem Gebiet des Transportwesens und dem freien Zugang zu diesem.
1. Die derzeitige Situation der Behindertenpolitik und der Antidiskriminierung in der EU
In der EU leben mehr als 45 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Und trotzdem wurde erst in den letzten Jahren damit begonnen, die Diskriminierung behinderter Menschen wahrzunehmen. Was also haben die europäischen Politiker gemacht?
Die erste Maßnahme war eine Erklärung zur Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen im Dezember 1996, die in den Amsterdamer Vertrag von 1997 aufgenommen wurde, als der Union die Ermächtigung zur Bekämpfung von Diskriminierung auf Grund von Geschlecht, Religion oder Glaube, Rasse, Alter, sexueller Orientierung oder Behinderung gegeben wurde. Dies wurde als Basis genutzt, um im Jahr 2000 ein umfassendes Antidiskriminierungspaket zu verabschieden, das auch ein Gesetz zur Gleichbehandlung am Arbeitsplatz und ein Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Diskriminierung enthielt. Damit gibt es rechtliche Rahmenbedingungen, um legales Arbeitsrecht tatsächlich durchzusetzen. Das schließt auch den Schutz vor Belästigung, den Wirkungsbereich positiver Aktionen, die entsprechenden Rechtsmittel und die Durchsetzung von Maßnahmen mit ein. Zudem setzt es auch eine Abgabe für Arbeitsplätze voraus, um diese den Bedürfnissen von behinderten Menschen anpassen zu können.
Die EU-Delegationen in den Entwicklungsländern werden immer wieder von der Europäischen Kommission dazu angehalten, weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Chancengleichheit behinderter Menschen zu ergreifen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Behinderung ein Teil der Entwicklungszusammenarbeit ist und auch bleibt.
Es ist auch eine Frage der Menschenrechte. In der Charta der Grundrechte der Union, auf die rechtsverbindlich im EU-Reformvertrag verwiesen wird, ist nicht nur ein Artikel enthalten, der Diskriminierung verbietet, sondern auch ein spezieller Paragraph (Art. II-86) über die Rechte behinderter Menschen:
Artikel II-86: Integration von Menschen mit Behinderung
"Die Union anerkennt und achtet den Anspruch von Menschen mit Behinderung auf Maßnahmen zur Gewährleistung ihrer Eigenständigkeit, ihrer sozialen und beruflichen Eingliederung und ihrer Teilnahme am Leben der Gemeinschaft"
Das wird de facto rechtsbindend sein, und kann von jedem Bürger und jeder Bürgerin vor einem Gerichtshof durchgesetzt werden - für den zu erwartenden Fall, dass dieser Reformvertrag zunächst von den Regierungen in Lissabon sowie im Anschluss von den Parlamenten angenommen wird.
In der gescheiterten Europäischen Verfassung hätte dieser Artikel Verfassungsrang bekommen, was symbolisch ein weiterer wichtiger Schritt gewesen wäre. Durch die Grundrechte-Charta wird zwar unter rechtlichem Gesichtspunkt das gleiche erreicht, allerdings können einzelne Mitgliedsstaaten nun ausscheren. Es ist leider ein weiteres Beispiel dafür, dass das "Nein" der Niederländer und Franzosen zum Verfassungsvertrag Europa keineswegs - wie erhofft - sozialer gemacht hat. Das Gegenteil ist der Fall.
Trotzdem ist spürbar, dass es nicht ausreicht, neue Gesetze zu entwerfen. Man muss einen Impuls aufbauen und sich mit der Öffentlichkeit beschäftigen, wenn man eine Veränderung in den Mitgliedsstaaten erreichen möchte. Man muss sie für sich gewinnen und jedem das Klischeehafte und das Ausschließen von behinderten Individuen und Gruppen bewusst machen. So entstand die Idee, 2003 zum Jahr der behinderten Menschen zu machen.
Das Jahr 2007, das "Europäische Jahr der Antidiskriminierung", sollte sich mit den Problemen und Diskriminierungen beschäftigen, von denen behinderte Menschen immer wieder betroffen sind, aber auch mit einer Menge positiver Dinge. Es geht darum, die Talente behinderter Menschen zu feiern. Ich erinnere gerne an den Sänger Thomas Quasthoff, dem 1975 die Zulassung zum Gesangsstudium an der Hochschule für Musik in Hannover verweigert wurde, weil er als Contergan-Behinderter nicht Klavier spielen konnte. Zum damaligen Zeitpunkt hätte er an keiner Musikhochschule studieren können. Er nahm Privatunterricht, setzte sich auch ohne Hochschul-Studium durch und erteilte den behindertenfeindlichen Bürokraten in Hannover eine Lektion, die sie nicht vergessen werden. Heute erfreut Thomas Quasthoff ein Millionenpublikum auf der ganzen Welt.
Es geht darum, die Person und nicht die Behinderung zu sehen. Es geht um Individuen und Gruppen von Menschen mit Behinderungen, die sich selbst repräsentieren und die am gesellschaftlichen Leben voll teilnehmen. Um das zu fördern, müssen sich auch die Verhaltensweisen nicht behinderter Menschen verändern. Nur sehr wenige Menschen diskriminieren absichtlich Menschen mit Behinderung. Oft ist es die Ignoranz, die unnötige Barrieren schafft und andere ausschließt.
Und es geht auch um Zusammenarbeit - Ideen auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene auszutauschen, wie auch zwischen Regierungsakteuren, Kommunen und ehrenamtlichen Gruppen zu koordinieren.
Behinderung darf sich nicht nur auf Beeinträchtigungen physischer, sensorischer oder lernender Art reduzieren. Behinderung im weitesten Sinne dreht sich um die Ausgrenzung bestimmter Personen von sozialen, ökonomischen, kulturellen und politischen Aktivitäten, wenn jene Personen, die diese Aktivitäten organisieren, keine Rücksicht auf die Bedürfnisse aller nehmen.
Manche Barrieren sind offensichtlich: Gebäude, die mit verschiedenen Stockwerken gebaut wurden, aber nur Treppen und keine Fahrstühle oder Rampen enthalten.
Andere Barrieren sind weniger offensichtlich, zum Beispiel
- das Veröffentlichen von Informationen in kleiner Schrift, was bedeutet, dass mehr als 15% der Bevölkerung sie nicht lesen können.
- die formale Qualifikation in Jobanzeigen, die ignoriert, dass das "spezielle" Schulsystem nicht darauf ausgerichtet ist, akademische Leistungen zu erbringen - mit spürbaren Konsequenzen für behinderte Personen
Das ist es, warum generelle Gleichberechtigung und gesteigertes Bewusstsein so wichtig sind.
Sie sehen, die Reihe der europäischen Bemühungen, die Thematik der Chancengleichheit behinderter Menschen betreffend, ist lang und vielseitig und könnte fortgesetzt werden.
Ich möchte im folgenden nun genauer auf die Einschränkung der Mobilität Behinderter eingehen - und welche Maßnahmen dagegen ergriffen wurden bzw. welche noch zu ergreifen sind. Mein Blick richtet sich dabei zunächst auf die europäische Ebene, die Ebene der legislativen Rahmenbedingungen. Zudem werde ich über konkrete Erfahrungen aus der lokalen Politik sprechen - bezogen auf meine Heimatstadt Berlin.
2. Was hat Europa für die Mobilität behinderter Menschen getan?
Im Transportsektor waren lange Jahre die skandinavischen Länder vorbildlich, weil sie die Barrierefreiheit der Fahrzeuge und Einrichtungen schon realisierten, als andere Länder wie Deutschland z.B. noch nicht daran dachten.
Im Öffentlichen Verkehr sind nämlich - das belegen alle Untersuchungen - etwa 30 % mobilitätsbehinderte Menschen unterwegs. Das sind nicht nur die Menschen im Rollstuhl. Dazu gehören die - meist - Mütter mit Kinderwagen und die Begleitpersonen kleiner Kinder. Diejenigen, die es erfahren haben, wissen, wie lange es dauern kann, mit zwei kleinen Kindern über Treppenstufen aus dem U-Bahnhof zur Straße zu gelangen oder von einem Bahnsteig zum anderen.
Wichtig sind auch die vielen älteren Menschen, für die das Treppensteigen zu schwer oder zu mühsam ist und die Nutzung der Fahrtreppe zu gefährlich. Vergessen dürfen wir auch nicht die temporären Behinderungen: Ich jedenfalls konnte vielfach beobachten, wie sich der Alltagsblick verändern kann, wenn der junge Sportler oder die junge Sportlerin mit Gipsbein auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen ist. Diese Erfahrung ist oft ein Lernprozess, der im ganzen Leben anhält.
Aus all diesen Gründen unterstreiche ich die Erkenntnis: Behindert ist man nicht, behindert wird man!
Die Europäische Union hat einige legislative Anstrengungen unternommen bzw. ist dabei, Vorschläge für Richtlinien zu entwerfen. Die EU-Kommission unterstützt Forschungsprogramme zur Anpassung der verschiedenen Transportmittel an die Bedürfnisse behinderter Menschen. Die legislativen Initiativen führten bereits oder werden führen zu den Niederflurbussen, zu Abteilwagen bei der Eisenbahn oder zu Langstreckenbussen, die barrierefrei sind oder sein werden.
In diesem Kontext möchte ich die Direktive des Europäischen Parlaments und des Rates vom November 2001 erwähnen. Darin enthalten ist die spezielle Einrichtung von Fahrzeugen zum Transport von Personen mit mehr als acht Sitzen. Hinter diesem technischen Ausdruck verbergen sich die obligatorischen Regeln für alle Busse in der Europäischen Union:
- eine Rampe für Rollstuhlfahrer
- eine bestimmte Anzahl größerer Sitze, je nach Größe des Busses
- ausreichende Platzverhältnisse für Rollstühle in jedem Bus
Diese Richtlinie wurde von den Mitgliedsstaaten am 13. August 2004 verabschiedet und wird die Produktion von Bussen in der EU mit 490 Mio. Einwohnern und darüber hinaus weltweit enorm zugunsten der Behinderten verändern.
Im Fall der Bahnverbindungen wurden einige Aktivitäten in Angriff genommen. Auf der Basis der Richtlinie der Interoperabilität des konventionellen Bahnsystems wurden technische Spezifizierungen zur Abdeckung der Zugänglichkeit für Personen mit verminderter Mobilität entwickelt.
Mit der Verabschiedung des 3. Eisenbahnpakets haben wir die Passagierrechte für alle Fernverkehrsstrecken in Europa deutlich gestärkt - und damit auch die Rechte behinderter Menschen. Da war viel Druck des Parlamentes gegen die zögerlichen Mitgliedsstaaten notwendig. Von den verabschiedeten Passagier-Rechten werden gerade auch Rollstuhlfahrer profitieren.
Trotz alledem ist es ein Skandal, dass das Flagschiff der Deutschen Bahn, der ICE für Behinderte nicht ohne fremde Hilfe zugänglich ist. Das muss sich ändern!
Für den Seetransport wurde die geänderte "Richtlinie für Sicherheitsregeln und Standards von Passagierschiffen" eingeführt, die auch die Belange und die Sicherheit mobil eingeschränkter Personen berücksichtigt. (KOM (2005) 47, Richtlinie 2003/24/EG).
Für den Flugverkehr begrüße ich sehr, dass die EU die Rechte von Personen mit verminderter Mobilität geregelt hat. Am 9. Juni 2006 wurde eine entsprechende Verordnung beschlossen, die ab 2008 gelten soll. Die Artikel, die die Nichtdiskriminierung behinderter Flugreisender betreffen, gelten jedoch bereits seit 2007.
Hier geht es vor allem um die Beförderungspflicht. Einem behinderten Flugpassagier kann demnach aufgrund der Behinderung weder eine Buchung für einen Flug von oder zu einem unter die Verordnung fallenden Flughafen noch die Mitnahme verweigert werden. Und: Die Kosten, die nötig sind, um die behinderten Menschen zu transportieren, werden auf alle Flugpassagiere umgelegt.
Dieser Artikel war von Anfang an heftig umstritten. Die Fluggesellschaften argumentierten, dass die Sicherheit aller Passagiere Vorrang vor allen anderen Erwägungen haben müsse. Andererseits brachten die Vertreter der Behindertenorganisationen (EDF und EBU) ihre Sorge zum Ausdruck, dass Sicherheitserwägungen häufig als Vorwand dienten, um die Mitnahme eines behinderten Reisenden zu verweigern.
In diesem Zusammenhang sind die Luftfahrtunternehmen deshalb dazu verpflichtet, die Sicherheitsbestimmungen, die sie der Beförderung behinderter Passagiere zugrundelegen, öffentlich und in barrierefreien Formaten zugänglich zu machen. Das gilt im übrigen auch für das Reiseunternehmen. Damit wir gewährleistet, dass die Regeln transparent sind und Missbrauch durch solche Unternehmen weitgehend ausgeschlossen wird, denen nicht ernsthaft an der Beförderung von behinderten Flugreisenden gelegen ist. Dieser Aspekt wird durch eine weitere Verpflichtung untermauert: im Falle der Verweigerung der Beförderung hat das Unternehmen dem behinderten Passagier unverzüglich die Gründe mitzuteilen - auf Wunsch auch schriftlich binnen 5 Werktagen.
3. Neuorientierung unserer Infrastrukturpolitik
Die Mobilität von behinderten Menschen ist alles andere als ein individuelles oder gruppenspezifisches Problem. In einer alternden Gesellschaft sollte sie vielmehr zur Richtschnur der Infrastrukturpolitik werden. Denn wir befinden uns nicht mehr in den 50er und 60er Jahren, am Anfang der Automobilisierung in Deutschland, mit stetig steigender Bevölkerungszahl und immensen Wachstumsraten. Heute lässt sich die Zahl der Autos kaum noch steigern, sind die Probleme der Umwelt, der Energie und die Beeinträchtigung der Lebensqualität insbesondere in den Städten offensichtlich. Heute stehen wir am Anfang einer negativen Bevölkerungsentwicklung.
Wenn die deutsche Bundesregierung wie zu Beginn dieses Jahres ein 4,3 Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm für Verkehrswege startet, muss die Zielrichtung klar sein, damit es den Bedürfnissen einer Gesellschaft im demographischen Wandel entspricht. Statt in einen weiteren Ausbau des Verkehrsnetzes zu investieren, muss es um einen Umbau unserer Mobilitätsangebote gehen.
Gerade angesichts der demographischen Entwicklung in den Industriestaaten müssen Alternativen zum Auto gefördert werden. Denn ältere Menschen steigen eher auf Bus und Bahn um, weil sie sich im Auto zu unsicher fühlen. In Deutschland sind 20 % der Haushalte autofrei, die von Rentnern aber zu 60 %. Das bedeutet, dass die Autofahrer-Haushalte in Zukunft abnehmen werden.
Wird das Investitionsprogramm für die Optimierung des existierenden Gesamtsystems und die hundertprozentige Barrierefreiheit verwendet, gehört die Diskriminierung von Millionen älterer, behinderter und von Menschen mit Kleinkindern bald der Vergangenheit an. Das wäre nicht nur die adäquate Antwort auf den demographischen Wandel sondern auch ein starker Beitrag für 2007, dem Europäischen Jahr der Antidiskriminierung.
Ein in diesem Sinne eingesetztes Investionsprogramm wäre im übrigen auch wirtschaftlich sehr viel interessanter: Denn Straßenbau per se fördert - auch wenn viele das Gegenteil behaupten - nicht den wirtschaftlichen Aufschwung. Der Arbeitsplatzeffekt ist gering, weil solche Großprojekte kapital- und maschinenintensiv sind. Bestes Beispiel dafür ist das Land Brandenburg, das jahrelang Milliardenbeträge als Konjunkturprogramm in Straßenprojekte gesteckt hat, ohne signifikante Erfolge bei der Beschäftigungslage zu erzielen. Werden Verkehrswege aber saniert und die Einrichtungen barrierefrei umgebaut, ist die Arbeitsplatzeffizienz etwa viermal so hoch; dort profitiert die mittelständische lokale Wirtschaft.
4. Praktische Erfahrungen aus dem Berliner Verkehrswesen
In meiner Heimatstadt Berlin bedurfte es bei der Einweihung neuer U-Bahnhöfe z.B. der permanenten Demonstrationen von Behindertenverbänden, um durchzusetzen, dass zur Standard-Ausstattung eines neuen Bahnhofs auch der Aufzug gehört. Als 1987, anlässlich der 750-Jahr-Feier der Stadt Berlin, der renovierte Bahnhof Zoo eingeweiht wurde, und 20 demonstrierende Menschen im Rollstuhl dem Regierenden Bürgermeister die Aufmerksamkeit und die Schau stahlen, war es mit der Ignoranz endgültig vorbei. Vor laufender Kamera versprach der Regierende Bürgermeister die unverzügliche Nachrüstung, die dann auch tatsächlich erfolgte.
Aber die entscheidende Wende gelang erst mit der rot-grünen Koalition, die 1989-1990 auf Landesebene die westliche Berliner Halbstadt regierte. Mit unserem Koalitionspartner, der SPD, konnten wir folgendes durchsetzen:
• Aufzüge haben Priorität vor Fahrtreppen. Es gab Bahnhöfe mit bis zu 20 Rolltreppen ohne Aufzug. Fahrstühle oder Rampen garantieren den Zugang aber in jede Richtung und für alle, insbesondere für diejenigen, denen die Benutzung der Rolltreppe zu gefährlich erscheint.
• die Aufzüge bekamen eine Mindestgröße von 2,10 x 1,40 m (statt 1,40 x 1,40), so dass es nicht nur für die Begleitpersonen von Menschen im Rollstuhl komfortabler wurde, sondern auch für die Begleitpersonen von Menschen mit Kinderwagen. Und auch der Transport von Fahrrädern wurde dadurch erheblich vereinfacht.
Beim Bus orientierten wir uns am amerikanischen Beispiel. Der "Americans-with-Disabilities-Act" ist ein Gesetz, das in der ganzen USA gilt. Ob in San Francisco oder New York, in Seattle oder New Orleans, alle Busse sind behindertengerecht ausgestattet. Die meist hochflurigen Busse haben einen Aufzug, der Fahrer oder die Fahrerin kann ihn bedienen und hilft, den Rolli in Position zu bringen. Kein einziges Mal wurden - so meine sicherlich nicht repräsentativen Beobachtungen - Klagen der übrigen Fahrgäste laut, die sich über den Zeitverlust beschwerten. Auch das zeigt: Die Akzeptanz bei der nicht-behinderten Bevölkerung ist vorhanden!
Natürlich gab es in Berlin auch Rückschläge: Die Hublifte in den Bussen wurde wieder abgeschafft und bei der Straßenbahnsanierung der alten Tatra-Fahrzeuge spielte dieses Thema keine Rolle. In Cottbus und Mannheim war man cleverer als in Berlin. Dort baute man ein niederfluriges Mittelteil ein, was nicht nur den Behinderten zugute kam. Es war auch finanziell attraktiv!
1992 verabschiedete der Senat die "Leitlinien zum Ausbau Berlins als behindertengerechte Stadt". Darin wird nicht nur das Ziel unterstrichen, alle Einrichtungen und Fahrzeuge so auszustatten, dass Behinderte ohne fremde Hilfe Zugang haben. Auch bei der Grundsanierung alter Bahnhöfe ist die barrierefreie Ausstattung verpflichtend. Das betrifft nicht nur den Einbau von Aufzügen oder Rampen; auch an die Kleinwüchsigen, die Hörgeschädigten und die Blinden wird dabei gedacht. In Berlin hatten sich nach einem langen Diskussionsprozess die unterschiedlichen Behindertenverbände auf eine gemeinsame Standardisierung geeinigt.
Natürlich wird auch immer wieder versucht, diese Bestimmungen zu unterlaufen. Aber: Im Interesse aller Fahrgäste ist mir ein weniger strahlender Bahnhof, der barrierefrei ist, wichtiger als ein frisch renovierter Bahnhof mit Hindernissen.
Die Berliner Initiative wurde erweitert. Nach dem Senatsbeschluss von 1992 wurde 1999 das Gleichstellungsgesetz für das Land Berlin und 2002 das für die ganze Bundesrepublik vom Parlament beschlossen.
Meine Erfahrungen aus Berlin zeigen, dass die Lebensumstände behinderter Menschen - kombiniert mit einem gewissen Öffentlichkeitsdruck, sowie mit den richtigen politischen Maßnahmen - um ein Vielfaches verbessert werden können. Mit Recht - sowohl auf lokaler, nationaler oder europäischer Ebene - müssen wir die Standards setzen, um die Mobilität behinderter Menschen zu sichern.
Ich werde mich auch weiterhin bei meiner Arbeit im Europäischen Parlament verstärkt mit den Problemen behinderter Menschen beschäftigen. Ich bin sehr interessiert an ihren täglichen Erfahrungen und hoffe, dass wir eine fruchtbare Diskussion haben werden. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten, so dass ich Ihre Informationen für meine weitere politische Arbeit nutzen kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Michael Cramer MEP