Nun hat sich auch Lettland für den Beitritt zur Europäischen Union ausgesprochen und bildet zusammen mit Finnland, Estland, Litauen und Polen die nordöstliche Grenze der EU. Deutschland verliert damit seine Randlage und rückt ins Zentrum der Union. Aus einem Land im toten Winkel der zweigeteilten Welt wird ein Transitland. Ob der dadurch dramatisch ansteigende Verkehr bewältigt wird, ohne daß Deutschland in Staus und Abgasen erstickt, liegt vor allem an der verkehrspolitischen Weichenstellung.
In ihrem "Weißbuch" fordert die EU die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. In den Erweiterungsvorbereitungen spielte diese Absicht indes keine Rolle. Viel zu spät hat die EU-Kommission das Defizit erkannt. Erst Anfang 2003 wurde eine hochrangige Expertengruppe unter Vorsitz des ehemaligen Verkehrskommissars Karel van Miert eingesetzt - sie soll die Leitlinien für das erweiterte transeuropäische Verkehrsnetz überarbeiten.
Das war in der Tat nötig, denn bei den verwirklichten wie den geplanten Prioritäten wurde vor allem durch die nationale Brille geschaut. Die italienische Ratspräsidentschaft hält die Autobahnbrücke über die Straße von Messina für prioritär, für die Dänen ist die Brücke über den Fehmarn-Belt vorrangig. Frankreich und Spanien haben einen Autobahntunnel durch die Pyrenäen gebaut, der auf französischer Seite in schmale Dorfstraßen mündet und Superstaus produziert. Besser wäre es gewesen, die stillgelegte Bahnstrecke am Col du Somport wieder zu eröffnen.
Verkehrspolitisch scheint es den Eisernen Vorhang noch immer zu geben: Der EU-Blick richtet sich kaum nach Osten. Fährt man heute mit der Eisenbahn von Berlin in die estnische Hauptstadt Tallinn, benötigt man für die 1700 Kilometer 60 Stunden - das ist als Reisegeschwindigkeit nicht mal Tempo 30. Man muß neunmal umsteigen, der Zug hält an 60 Bahnhöfen, und die Grenze zwischen Estland und Lettland muß man zu Fuß überwinden. Hätten wir das Tempo der Dampflokomotive von 1935, wären wir mit 27 Stunden Fahrzeit mehr als doppelt so schnell am Ziel.
Im Van-Miert-Bericht wird der Eisenbahnverbindung von Helsinki über Tallinn, Riga und Kaunas nach Warschau zwar eine "hohe Priorität" eingeräumt. Die Zusagen aller beteiligten Regierungen für einen Baubeginn vor 2010 liegen aber noch immer nicht vor. Auch für den Regionalverkehr, den kleinen Grenzverkehr, der das Zusammenwachsen fördert, sind diese Verbindungen von Bedeutung.
Besonders wichtig ist eine umweltfreundliche Verkehrspolitik für Ostdeutschland. Die fünf von Berlin ausgehenden Eisenbahnstrecken müssen deshalb unverzüglich ausgebaut und saniert werden. Das betrifft die Stettiner Bahn in die polnische Hafenstadt Stettin, die Ostbahn über Kiez-Küstrin, Danzig und Bromberg in die baltischen Staaten, die Frankfurter Bahn nach Warschau, die Görlitzer Bahn nach Breslau und Kattowitz und die Dresdener Bahn nach Prag, Budapest, Bratislava und Ljubljana. Mit diesen fünf Eisenbahnstrecken wären alle mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer mit der alten EU verbunden.
Die Fertigstellung dieser Strecken ist überfällig. Denn nur durch eine Wende in der europäischen Verkehrspolitik kann das ansteigende Verkehrsaufkommen bewältigt werden. Zudem hat sich die EU im Kyoto-Protokoll verpflichtet, bis 2010 den CO2-Ausstoß um acht Prozent zu senken. Deutschland muß ihn um 21 Prozent verringern. Weil der Verkehrssektor mit einem Anteil von 20 Prozent an den Gesamtemissionen der zweitgrößte Verursacher für Treibhausgase ist, muß die EU die Zugsignale auf Grün stellen, will sie ihre Klimaverpflichtungen einlösen.
Neben der Sanierung der Schienenwege müssen freilich noch andere Aufgaben angepackt werden. Die EU ist mit 15 Signalsystemen, fünf Stromspannungen und drei Spurweiten noch immer von den Eigenheiten nationaler Eisenbahnsysteme geprägt. Den überall gültigen europäischen Führerschein gibt es nur für die Straße - auf der Schiene steht dagegen an den Ländergrenzen ein Fahrerwechsel an. Kein Wunder, daß der Schienengüterverkehr nur einen kleinen Prozentsatz ausmacht. Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 13 Kilometern in der Stunde ist er dem Lkw-Transport hoffnungslos unterlegen. Daß es auch anders geht, beweisen ausgerechnet die Vereinigten Staaten: Dort liegt der Anteil des Schienengüterverkehrs bei über 60 Prozent.
Die EU-Generaldirektorin für Umwelt, Catherine Day, sagte kürzlich in Berlin: "Die EU-Verkehrspolitik ist außer Kontrolle." Nicht nur aus ökologischen, auch aus ökonomischen Gründen muß sich das im Hochgeschwindigkeitstempo ändern. Gelänge das und hätten wir den Geschwindigkeitsstandard der Bahnstrecke Berlin-Hannover - die Zugfahrt nach Tallinn dauerte nur noch zehn statt sechzig Stunden.
Der Verfasser ist verkehrspolitischer Sprecher der Berliner Grünen.