Interview von Sarah Alberti
Am 26. Mai eröffnet in Venedig die Architektur-Biennale. Der Deutsche Pavillon widmet sich den Folgen des Mauerfalls. Die Kuratoren Wolfram Putz, Lars Krückeberg und Thomas Willemeit, die 1998 das Büro GRAFT mit Sitz in Berlin, Los Angeles und Peking gründeten, bekamen Verstärkung von Marianne Birthler, von 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen und heute unter anderem im Beirat der Gedenkstätte Berliner Mauer. Den vieren geht es vor allem ums Aufzeigen, weniger ums Werten.
Was war zuerst da: Das Thema oder der Wunsch, den Deutschen Pavillon einmal zu bespielen?
Lars Krückeberg: Das ist die wichtigste Architekturausstellung der Welt, und die Frage, ob wir ein relevantes Thema haben, stellen wir uns schon länger.
Thomas Willemeit: Wir haben in Braunschweig studiert, direkt neben dem Zonenrandgebiet. Die Mauer fiel kurz nach Studienbeginn, sodass wir uns im Studium sehr intensiv mit Berlin und Orten in den neuen Bundesländern beschäftigen konnten. Im Februar 2018 war die Mauer so lange gefallen, wie sie stand: 28 Jahre. Dieses Spiegeldatum war für uns der Auslöser für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem einstigen Mauerverlauf und der Frage, was auf ihm passiert ist. Wie baut man Mauern ab? Wie fügt man Gesellschaft im Stadtraum wieder zusammen, auf eine sichtbare, räumliche Weise? Wie reißt man Mauern in den Köpfen ein?
Was steht im Vordergrund: Der Blick zurück oder der nach vorn?
Marianne Birthler: Wir schauen jetzt zwar 28 Jahre zurück, aber das ist kein Endpunkt. Wir sind mittendrin in einem Prozess. Meinen Essay für den Katalog habe ich überschrieben mit "40 Jahre Teilung brauchen 40 Jahre Heilung".
Krückeberg: Uns geht es um die Auswirkungen des Mauerfalls. In diesem Heilungsprozess ist schon unglaublich viel gelungen. Andererseits sind die Schatten der Mauer, der Phantomschmerz, durchaus noch städtebaulich und gesellschaftlich spürbar.
Der Potsdamer Platz wurde kurz nach dem Mauerfall an Daimler-Benz verkauft, ohne dass Stadtplaner oder Bürger einbezogen wurden. Wie hätte eine andere Lösung zur "Heilung" der Stadt beitragen können?
Wolfram Putz: Grundsätzlich liegt unserer kuratorischen Haltung keine "Hätte-man-doch"-Forderung zugrunde. Wir wollen abbilden, wie eine demokratische Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Protagonisten verschiedene Lösungen generiert, und mischen in der Darstellung im Pavillon daher bewusst Regierungsaufträge, konzern- oder entwicklungsgesteuerte Aufträge mit Bürgerinitiativen und Kleingartenvereinen.
Krückeberg: Zu behaupten, man wisse, was für eine Stadt das Richtige ist, ist gefährlich. Im Falle des Potsdamer Platzes bilden wir ab, welche Geisteshaltung direkt nach dem Mauerfall herrschte. Wir zeigen auch, was andere Leute für diesen Ort gedacht haben.
Willemeit: Da gab es auch visionäre Vorschläge, zum Beispiel von Daniel Libeskind oder Axel Schultes, die sich frei machten vom historischen Vorbild oder das tradierte Regelwerk für innerstädtische Verdichtung für die gesamte Stadt weiterdachten. Der Potsdamer Platz war der erste Anlass, grundsätzliche Strategien des Zusammenwachsens zu formulieren. Wichtig ist aus heutiger Sicht festzustellen, dass sich in dem totalen räumlichen Vakuum der Wunsch durchgesetzt hat, Strukturen wieder so herzustellen, wie sie einmal waren. Offiziell fanden vor allem jene Beiträge Unterstützung, die stark auf den Vorkriegszustand Bezug nahmen.
Krückeberg: Wenn man heute einen Fluchttunnel findet oder noch ein Stück Mauer, dann ist das wie die Entdeckung eines neuen Grabes im Tal der Könige und muss sofort erhalten und unter Denkmalschutz gestellt werden. Direkt nach der Wiedervereinigung war das aber keine Selbstverständlichkeit - es gab also einen Prozess. Das war für uns eine interessante Erkenntnis: Erinnerung und Gedenkkultur können sehr dynamisch sein.
Die Konnotation der Mauer wandelte sich vor 28 Jahren innerhalb weniger Monate: Vor dem Mauerfall versteinertes Symbol der Einschränkung, danach Symbol des gewaltfreien Kampfes gegen diese. Das Bauwerk unter Denkmalschutz zu stellen, erschien vielen zunächst makaber.
Krückeberg: Mauerreste, die in der ganzen Welt stehen, sind heute kein Symbol für Diktatur, sondern ihrer Überwindung, stehen für Freiheit. Die Eastside Gallery, über deren künstlerisches Programm man streiten kann, ist das meistfotografierte Bauwerk Berlins.
Dabei handelt es sich um ein Stück Hinterlandsmauer, das auf der Ostseite erst nach dem Mauerfall besprüht wurde.
Birthler: Richtig, das wissen viele nicht. Es gab nach 1989 keinen einheitlichen Plan, es haben so viele unterschiedliche Kräfte gewirkt: Bürgerinitiativen, politische Entscheidungen, der Kampf derer, die erinnern wollten - gegen jene, die alles vergessen wollten. In diesem Kräfteverhältnis wurde unglaublich intensiv gestritten. Diese Entwicklung brauchte Zeit.
Welche Beispiele zeigen Sie jenseits von Berlin?
Putz: Seit Mitte der 50er wurden entlang der innerdeutschen Grenze ganze Dörfer, deren Bewohner politisch unzuverlässig erschienen, in der sogenannten "Aktion GRAFTUngeziefer" umgesiedelt, bis dahin, dass in den 70er-Jahren 50 Dörfer "gesäubert" wurden. Keines ist jemals wieder aufgebaut worden.
Willemeit: Die ICE-Strecke München - Berlin ist quasi das letzte Stück des Aufbauprogramms Ost. Dieses Zusammenführen zweier Länder ist eben auch eine infrastrukturelle Mammutaufgabe. Darüber hinaus gibt es den Berliner Mauerradweg oder den Iron Curtain Trail - Projekte, die wir sehr gut finden.
Krückeberg: Oder nehmen wir den Brocken: Ein Ort, der weder Ost noch West, sondern russisch war. Reines Sperrgebiet. In der alten Abhöranlage ist ein Museum entstanden, das genauso an den Kalten Krieg erinnert wie auch an den mystischen Berg Brocken mit seinen Hexen und Luchsen. Wichtig ist uns, aufzuspüren, wie unterschiedlich wir mit der Erinnerung umgehen, mit diesem Erbe, aber auch diesem Freiraum, der uns geschenkt wurde.