Die EU-Erweiterung auf die Schiene setzen

13. November 2003 zur Übersicht

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Am Wochenende hat sich auch die Bevölkerung von Lettland für den Beitritt zur Europäischen Union ausgesprochen und bildet nun zusammen mit Finnland, Estland, Litauen und Polen die nord-östliche Grenze der erweiterten Union. Deutschland verliert damit seine Randlage und rückt in das Zentrum der EU. Aus dem toten Winkel der zweigeteilten Welt wird ein Transitland. Ob der dramatisch ansteigende Verkehr bewältigt wird, ohne dass Deutschland in Stau und Abgasen erstickt, liegt vor allem an der verkehrspolitischen Weichenstellung.

In ihrem "Weißbuch" fordert die EU die Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene. In den Erweiterungsvorbereitungen spielte diese Absicht leider jedoch keine Rolle. Viel zu spät hat die EU-Kommission das Defizit erkannt und erst Anfang 2003 unter Vorsitz des ehemaligen Verkehrskommissars Karel van Miert eine hochrangige Expertengruppe eingesetzt. Sie soll die bisherigen Leitlinien für das erweiterte transeuropäische Verkehrsnetz überarbeiten.

Das war auch nötig, denn bei den realisierten und geplanten Prioritäten wurde vor allem durch die nationale Brille geschaut. Die italienische Ratspräsidentschaft hält die Autobahnbrücke über die Straße von Messina für prioritär und die Dänen die Brücke über den Fehmarn-Belt. Frankreich und Spanien haben einen Autobahntunnel durch die Pyrenäen gebaut, der auf französischer Seite in schmale Dorfstraßen mündet und dort Superstaus produziert. Besser wäre es gewesen, die seit 1970 stillgelegte Bahnstrecke am Col du Somport wieder in Betrieb zu nehmen.

Verkehrspolitisch scheint der Eiserne Vorhang noch vorhanden zu sein, der EU-Blick richtet sich in der Praxis kaum nach Osten. Fährt man heute mit der Eisenbahn von Berlin in die estnische Hauptstadt Tallinn, benötigt man für die 1700 km insgesamt 60 Stunden - das ist als Reisegeschwindigkeit nicht mal Tempo 30. Man muss neun mal umsteigen, der Zug hält an 60 Bahnhöfen und die Grenze zwischen Estland und Lettland muss man zu Fuß überwinden. Hätten wir heute das Tempo der Dampflokomotive von 1935, wären wir mit 27 Stunden Fahrzeit mehr als doppelt so schnell am Ziel.

Im van Miert-Bericht wird der Eisenbahnverbindung von Helsinki über Tallinn, Riga und Kaunas nach Warschau zwar eine "hohe Priorität" eingeräumt. Die Zusagen aller beteiligten Regierungen für einen Baubeginn vor 2010 liegen aber noch immer nicht vor. Auch für den Regionalverkehr, den "kleinen Grenzverkehr", der das Zusammenwachsen fördert, sind diese Verbindungen von großer Bedeutung.

Besonders wichtig ist eine umweltfreundliche Verkehrspolitik für Ostdeutschland. Die fünf von Berlin ausgehenden Eisenbahnstrecken müssen deshalb unverzüglich ausgebaut und saniert werden. Das betrifft die Stettiner Bahn in die polnische Hafenstadt Stettin, die Ostbahn über Kiez-Küstrin, Danzig und Bromberg in die Baltischen Staaten, die Frankfurter Bahn nach Warschau, die Görlitzer Bahn nach Breslau und Kattowitz und die Dresdener Bahn nach Prag, Budapest, Bratislava und Ljubljana. Mit diesen fünf Eisenbahnstrecken wären alle mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer mit der alten EU verbunden.

Die Fertigstellung dieser Strecken ist überfällig. Denn nur durch eine Wende in der europäischen Verkehrspolitik kann das ansteigende Verkehrsaufkommen bewältigt werden. Zudem hat sich die EU im Kyoto-Protokoll auch verpflichtet, bis 2010 den CO2-Ausstoß um 8 % zu senken. Deutschland muss ihn um 21 % verringern. Weil der Verkehrssektor mit einem Anteil von 20 % an den Gesamtemissionen der zweitgrößte Verursacher für Treibhausgase ist, muss die EU die Zugsignale auf Grün stellen, wenn sie ihre Klima-Verpflichtungen einlösen will.

Außer der Sanierung der Schienenwege müssen noch andere Aufgaben angepackt werden. In der EU existieren mit 15 Signalsystemen, fünf Stromspannungen und drei unterschiedlichen Spurweiten noch immer die Eigenheiten der nationalen Eisenbahnsysteme. Den überall gültigen europäischen Führerschein gibt es nur für die Straße. Bei der Schiene gibt es an den Ländergrenzen auch einen Fahrerwechsel. Kein Wunder, dass der Schienengüterverkehr nur einen kleinen Prozentsatz ausmacht. Mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 13 km/h ist er dem LKW-Transport hoffnungslos unterlegen. Dass es auch anders geht, beweisen ausgerechnet die USA. Dort liegt der Anteil des Schienengüterverkehrs bei über 60 Prozent.

Die EU-Generaldirektorin für Umwelt, Catherine Day, sagte kürzlich in Berlin: "Die EU-Verkehrspolitik ist außer Kontrolle". Nicht nur aus ökologischen, auch aus ökonomischen Gründen muss sich das im Hochgeschwindigkeitstempo ändern. Gelänge es und hätten wir den Geschwindigkeits-Standard der Bahnstrecke Berlin-Hannover, die Zugfahrt nach Tallinn dauerte nur 10 statt 60 Stunden!