Die Energiewende ist eine Win-Win-Win-Situation

15. Mai 2014 zur Übersicht

Artikel von Jolinde Hüchtker, erschienen in DER SCHREIBERLING vom 13.5.2014

Michael Cramer kandidiert für die Grünen bei der Europawahl. Seit 2004 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und Sprecher der Grünen im Ausschuss für Verkehr. 20 Jahre lang unterrichtete er Musik und Sport zwei Schulen in Neukölln. Ein Gespräch über das faulste Parlament Europas, mehr Flüchtlinge und das Auto als Statussymbol.



Was ist Ihr Lieblingsplatz in Europa?
 
Berlin. Ich bin 1974 nach Berlin gekommen, damals hieß die Parole: „Entweder du bist nach sechs Monaten wieder weg, oder du bleibst für immer.“ Stimmte.
 
Warum wollen Sie wieder ins Europaparlament?
 
Ich bin im Europäischen Parlament für Verkehrspolitik zuständig, da haben wir eine Menge erreicht. Wenn ich nicht kandidiere, fällt dieses Thema weg, da kein anderer Verkehrspolitiker europaweit kandidiert.
 
Wie sieht der Alltag als Europaparlamentarier aus?

Wir gelten ja als das faulste Parlament Europas, dabei haben wir 42 Sitzungswochen, der Bundestag hat 23. Ich bin etwa drei Wochen im Monat in Brüssel, eine in Straßburg. Nach Brüssel fliege ich, nach Straßburg fahre ich mit der Bahn. Das ist natürlich ökologisch blöd. Ich zahle privat an die Gesellschaft “ Atmosfair“ – eine freiwillige Abgabe. Meine Kerosinsteuer wird berechnet und davon werden ökologische Projekte weltweit finanziert.
 
In vielen EU Ländern herrscht Arbeitslosigkeit über 50%. Sieht so Europas Zukunft aus?
 
Viele EU-Mitgliedsstaaten, die jetzt in großen finanziellen Schwierigkeiten sind, sind es weil sie den Banken geholfen haben und nicht, weil sie falsche Politik machen.
 
Wenn sie das Geld kriegen, geht es darum, ihnen eine Perspektive zu bieten. In der Verkehrspolitik es ist so: Die Großprojekte, wie einen Tunnel durch die Alpen zu bauen, kosten ein Schweinegeld und dauern dreißig Jahre und dann wissen wir auch nicht ob der Tunnel zu 40% oder 50 % fertig ist. Da große Maschinen eingesetzt werden, entstehen relativ wenige Arbeitsplätze.
 
Das können wir auch anders machen. Wenn der öffentliche Verkehr gefördert wird, entstehen Arbeitsplätze und das ist eine Chance für die Jugendlichen. Dann braucht natürlich der europäische Raum viele Fachkräfte. Aber wir müssen aufpassen! Wir können nicht die ausgebildeten Ärzte aus Spanien, Portugal, Italien für uns abziehen. Dort haben sie dann keine mehr und für uns ist es ein gutes Geschäft: Da sie dort ausgebildet worden sind, haben wir die Ausbildung gespart. So geht es nicht. Wir müssen die Arbeitslosigkeit in den Staaten verringern.
 
Wir haben mit mehreren Jugendlichen aus Europa gesprochen. Manche empfanden es als Chance, ins Ausland zu gehen, manche wollten ihre Träume unbedingt im Heimatland verwirklichen. Was würden Sie ihnen empfehlen?
 
Das muss jeder für sich entscheiden. Wenn die Not am größten ist, ist auch die Flexibilität am größten. Wir müssen da hin, dass sie sich es selbst aussuchen können. Die Vielfalt ist ein Reichtum in Europa, den ich erhalten will.
 
Jugendlichen Perspektiven geben, Klimaschutz, das sagt das Wahlprogramm der Grünen. Sagt das nicht jede Partei? Was unterscheidet die Grünen von den anderen?
 
Ein gutes Beispiel: Im Jahr 2000 sind wir mit der Rot-Grünen Koalition aus der Atomkraft ausgestiegen und haben das Erneuerbare Energien Gesetz gemacht. Wenn du keine Alternative bietest, bringt es schließlich nichts.
 
Damals hatten wir 4% erneuerbare Energien. Die größten Optimisten dachten: „Wenn wir in 10 Jahren bei 12% sind, sind wir gut.“ Wir sind heute bei 25%. Aber wir haben auch 400.000 neue Jobs geschaffen. Sagt mir eine Branche, in der das passiert? Kenne ich nicht. Eine Win-Win-Win Situation!
 
Als Vergleich: In der Nuklearindustrie in Deutschland haben wir nur 35.000 Jobs. Deshalb verstehe ich nicht, wenn Hannelore Kraft in NRW jetzt sagt, die Energiewende ist schön, aber Jobs sind wichtiger. Hat sie denn nichts kapiert?
 
Sie glauben also an die Zukunft der erneuerbaren Energien in ganz Europa?
 
Klar. Ganz aktuell: Die Ukraine ist abhängig von russischem Gas – wie auch andere europäische Länder. Der Verkehrssektor ist zu 90% abhängig von Öl. Wenn wir diese Abhängigkeit herunterfahren wollen, brauchen wir Alternativen.
 
Es geht dann darum, die Phasen im Jahr zu überstehen , in denen zu wenig Sonne scheint und zu wenig Wind weht – das ist dann etwa ab dem 25. November. Dafür brauchen wir dann noch die normalen Kohlekraftwerke. Wir wissen, Erdöl hat den Peak schon längst überschritten. Uran ist gefährlich und auch teuer. Die Atomkraft ist schweineteuer. Es geht nicht mehr so weiter. Deshalb – glaube ich – ist das der einzige Weg.
 
Im Wahlprogramm der Grünen heißt es, es sei wichtig, auf Ressourcen zu achten. Nun gibt es ja das Vorurteil, dass die Jugendlichen heute sehr konsumorientiert sind. Wie wollt ihr das durchsetzen?
 
Ist es dein Hauptziel, von dem du seit Jahren träumst, einen Führerschein zu haben?
 
Schön wäre ein Führerschein, nötig aber nicht.

Aber das Auto ist heute kein Statussymbol mehr. Es wird zur Mobilität genutzt. Das ist schon der erste Schritt: weg vom Statussymbol hin zur Nutzung. Hier in Berlin gibt es ja einen ausgebauten Öffentlichen Verkehr. Ich bin viel freier ohne Auto. Ich kann abends noch ein Bier trinken, brauche keinen Parkplatz suchen.
 
Glauben Sie denn an die Jugend? Daran, dass wir in 20 Jahren die richtigen Entscheidungen treffen?
 
Natürlich habe ich Vertrauen in die Jugend, sonst wäre ich bevor ich in die Politik ging nicht Lehrer geworden. Und natürlich dürft ihr auch Fehler machen. Wir haben auch viele Fehler gemacht.
 
Als ich jugendlich war, spielte der Umweltschutz keine Rolle. Es war klar: Atomkraftwerke sind die Lösung. 100 Atomkraftwerke und Afrika hat keine Probleme mehr.
 
Das hat sich geändert, das finde ich toll. Damals waren wir Grünen die Vollidioten, weil wir gegen Atomkraft waren, jetzt sind in der Familie der Vollidioten auch Angela Merkel und Guido Westerwelle.
 
Das zeigt, was alles möglich ist. Informationen habt ihr alle. Informationen sind so wichtig. Ihr wisst das alles. Ihr wisst, ihr werdet nur glücklich, wenn wir die Klimaprobleme lösen.
 
Welche Punkte in der Europapolitik betreffen sonst besonders Jugendliche?
 
Erasmus erweitern. Ich will, dass jeder Schüler ein halbes Jahr im Ausland zur Schule gegangen ist.
 
Warum ist die EU wichtig? Was würde passieren, wenn es die EU nicht mehr gäbe?
 
Ich werde den Klimawandel noch überleben, was mit euch ist, weiß ich nicht. Vorsicht! Der Klimawandel ist nicht durch ein Land zu stoppen, selbst wenn es so groß ist wie Deutschland, England oder Frankreich, das geht nur europäisch und letztlich weltweit. Europa muss als großer Komplex anfangen. Wenn Deutschland die Energiewende hinkriegt, beeinflussen wir Europa und dann kann es weltweit gehen. Natürlich geht es mal bergauf mal bergab. Das weiß ich auch. Aber der Weg ist richtig. Damit ihr eine Zukunft habt und eure Kinder eine Zukunft haben, kämpfen wir alten Knacker dafür, dass der Klimawandel gestoppt wird!
 
Welche Rolle spielt Deutschland in der EU?
 
Deutschland ist ein starker Faktor. Wir sind eine Exportnation, die von jeder Erweiterung profitiert. Wir kriegen das Geld, das wir für die EU zahlen, vielfach zurück. Wenn Spanien, Portugal und Italien aber pleite sind und deutsche Produkte nicht mehr kaufen können, dann merken wir das sofort. Dann haben wir auch eine hohe Arbeitslosigkeit und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Wir können dann zwar produzieren, aber wir können es nicht mehr vertreiben.
 
Was sind außer dem Klimawandel die wichtigsten Punkte der Grünen in der Europawahl?

Flüchtlingspolitik etwa. Es kann ja nicht sein, dass ein Mitgliedsland Flüchtlingen an den Außengrenzen der EU nicht hilft, sondern dafür sorgt, dass sie ertrinken. Das wird jetzt ein bisschen korrigiert. Wir können nicht alle Flüchtlinge der Welt aufnehmen, aber die, die an unsere Grenzen kommen, die müssen ein Verfahren bekommen, ob sie Asyl bekommen oder nicht. Und es kann nicht sein, dass Malta alle aufnimmt, weil sie nun mal die kleine Insel da im Süden sind. Das müssen wir verteilen. Wenn die Türkei in der Lage ist, eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, muss Deutschland in der Lage sein, mehr als 14 000 oder 20 000 Flüchtlinge aufzunehmen. Wir haben damit Erfahrung, wir haben 4 Millionen Flüchtlinge aus der DDR in Westdeutschland aufgenommen.
 
Auch unsere Agrarpolitik spielt eine Rolle. Durch Agrarsubventionen ist Hühnerfleisch aus der EU in Afrika billiger als das Hühnerfleisch, das Afrikaner hergestellt haben. Natürlich völlig verrückt. Dann haben die Leute dort keine Perspektive mehr und müssen abhauen.
 
Drei Worte zur EU?

„Europa ist wie ein Fahrrad. Wenn es stehen bleibt, kippt es um.“ Okay, mehr als drei Worte, ein Zitat von Jacques Delors, zehn Jahre lang EU-Kommissionspräsident.
 
Apropos Fahrrad – nimm Kopenhagen. Da haben sie den Fahrradanteil um 300 Prozent erhöht. 52 Prozent fahren zur Schule, Uni, Arbeit mit dem Rad. Das haben sie in 20 Jahren geschafft. Das hätte keiner für möglich gehalten. In deutschen Städten ist der Verkehr für 70 % aller klimaschädlichen Emissionen verantwortlich. Das ist ein Riesenproblem. Der Verkehr frisst also doppelt und dreifach auf, was mit Milliarden unserer Steuergelder in den anderen Bereichen erreicht wurde. Ohne Änderung der Mobilität können wir den Klimawandel nicht stoppen.