Die Dampflok war schneller

25. November 2003 zur Übersicht

Mit der Bahn von Berlin nach Tallinn: Ein Reisebericht, der zeigt, wo die Verkehrsprobleme in der erweiterten EU liegen.

Um mit der Eisenbahn von Berlin nach Tallinn zu fahren, gibt es mehrere Möglichkeiten:

 

  • Die kürzeste Verbindung über Königsberg (1627 km, 63 Std.)

  • Die einzig schienendurchgängige über St. Petersburg (2296 km, 57 Std.)

  • Die von uns gewählte über Warschau und Riga (1689 km, 59 Std.)

Am 1. Mai 2004 wird die EU um 10 Staaten erweitert. Wir wollten überprüfen, welche Bedingungen für den ungehinderten Reiseverkehr in den östlichen Beitrittsländern Polen, Litauen, Lettland und Estland existieren. Deshalb haben wir uns für eine Fahrt mit der Eisenbahn von Berlin nach Tallinn, die nordöstlichste Hauptstadt der erweiterten EU, entschlossen.

 

Maßgebend für die ausgewählte Route war die Eisenbahnfahrt ohne zusätzliches Visum durch Weißrussland oder Russland, weshalb die über St. Petersburg entfiel. Wegen des Visumzwangs kam auch die Route über Königsberg nicht in Frage. Zudem ist die Eisenbahnstrecke entlang der estnischen Küste nicht mehr in Betrieb. Deshalb entschieden wir uns für die Route über Warschau und Riga.

 

Für 1700 km fast 60 Stunden

 

Unsere Reise begann am Montag, den 18.08. um 21.42 Uhr in Berlin Lichtenberg. Angekommen sind wir am 21. 08. nach 1689 km und 58:48 Stunden mit neunmaligem Umsteigen  um 9.30 Uhr im Bahnhof von Tallinn.

 

 

Ankunft Frankfurt/Oder 23.17 Uhr, Abfahrt 23.18 Uhr:

 

Für die 82 km von Berlin-Lichtenberg nach Frankfurt/Oder benötigten wir für den Nachtzug im Liegewagen – der Regional-Express benötigt tagsüber 70 Minuten - 1:35 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 52  km/h entspricht. Die Sanierung dieses Abschnitts soll 2007 abgeschlossen sein. Dann wird die Fahrzeit nur noch 40 Minuten betragen.

 

 

Ankunft Warschau (Wschodnia): 6.32 Uhr, Abfahrt 7.24 Uhr:

 

Im Liegewagen des Nachtzugs benötigten wir für die 460  km von Frankfurt/Oder bis Warschau 7:14 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 63  km/h entspricht (Die schnellste Tagesverbindung Berlin-Warschau dauert genau 6 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 94 km/h entspricht) . Die Sanierung der Strecke zwischen Frankfurt/Oder und Warschau wurde für eine Geschwindigkeit von 160 km/h bereits abgeschlossen.

 

 

Ankunft Sestokai 15.15 Uhr, Abfahrt 16.05 Uhr:

 

Bis Sokolka fährt man auf der traditionellen Strecke nach St Petersburg und benötigt für die   220 km  3:22 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von  57  km/h entspricht.

 

In Sokolka verlassen wir die traditionelle Strecke, um auf polnischem Gebiet nach Litauen zu fahren. Die traditionelle Hauptstrecke nach Litauen führt nämlich durch Weißrussland, wofür ein Visum und zwei zusätzliche Grenzübertritte notwendig sind. Um dieses zu vermeiden, wurde die Verbindung vom polnischen Sokolka zum litauischen Kaunas wieder hergestellt.

 

Dieser Abschnitt ist eingleisig und nicht elektrifiziert. Bis zur polnisch-litauischen Grenze ist er in relativ gutem Zustand. Für die 152  km bis zur Grenze benötigten wir  3:29 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 44  km/h entspricht

 

 

Ankunft in Kaunas um 17.46 Uhr (MEZ + 1 Stunde), Abfahrt 1:26 Uhr

 

In Sestokai müssen wir wegen des Spurwechsels (Breitspur) in einen Zug mit drei Wagen und schwerer Diesel-Lokomotive umsteigen. Der Bahnsteig wurde modernisiert, ein Bahnsteigwechsel war nicht notwendig. Für die Grenzkontrolle benötigten wir mehr als eine Stunde Aufenthalt.

 

Der litauische Abschnitt ist in schlechtem Zustand, das Tempo sehr gering. Die Gleise sind nicht verschweißt, was ein permanentes Ruckeln bedeutet. Die Bahnhöfe, z.B. Mariojampolé, sind sehr schön renoviert, das Schneckentempo bleibt aber. Ab Kazlu Ruda wird das Tempo schneller – wir befinden uns auf der zweigleisigen traditionellen Route Vilnius-Königsberg – und das Ruckeln unterbleibt. Für die 94 km vom Grenzbahnhof bis nach Kaunas benötigten wir 1:43 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 55 km/h entspricht

 

Die Ankunft in Kaunas, wo wir einen fast achtstündigen Zwangsaufenthalt haben, ist pünktlich um 17.46 Uhr. Man kann zwar nach Vilnius und wieder zurück nach Kaunas fahren. Das ändert aber nichts an der Gesamtfahrzeit, verkürzt lediglich die Nicht-Fahrzeit. Wir entscheiden uns, statt drei Stunden Aufenthalt in Vilnius für den fast achtstündigen in Kaunas.

 

 

Ankunft in Riga um 6.30 Uhr, Abfahrt um 13.20 Uhr

 

Die eingleisige Trasse in Litauen ist insgesamt in sehr schlechtem Zustand. Das Tempo ist gering, das Ruckeln begleitet uns. In Lettland ist der Zustand etwas besser und das Tempo größer.

 

Wir übernachten im Zug. Es ist zwar kein Liegewagen, aber man kann sich auf den Sitzen, die zu Liegebänken umfunktioniert werden können, ausstrecken und leidlich schlafen. Nachts gegen 3:30 Uhr wird man von den Zöllnern zur Passkontrolle geweckt. Für die 244  km von Kaunas bis nach Riga benötigten wir  5:04 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 48 km/h entspricht.

 

Der Anschluss in Riga – 5 Minuten – hätte geklappt. Da es von der Gesamtfahrzeit wegen der fehlenden Anschlüsse später egal ist, bleiben wir in Riga und fahren erst um 13.20 Uhr weiter nach Lugazi

 

 

Ankunft Lugazi um 16.20 Uhr, Abfahrt um 16.45 Uhr 

 

Von Riga geht es sehr langsam nach Sigulda, danach relativ schnell und ohne Ruckeln. Zwischen Cesis und Janamuiza ist die Strecke zweigleisig und teilweise saniert, das Tempo ist relativ schnell. Für die 164 km von Riga nach Lugazi benötigen wir drei Stunden (Durchschnitt: 55 km/h).

 

Die Ankunft in Lugazi ist pünktlich um 16.20 Uhr. Weil die Eisenbahn-Verbindung zwischen Lettland und Estland seit fünf Jahren unterbrochen ist, nehmen wir den Bus 341 um zur Grenze nach Valga zu fahren.

 

 

Ankunft Valga um 17.10 Uhr, Abfahrt um 18.00 Uhr

 

Nach einer 25-minütigen Busfahrt erreichen wir um 17.10 Uhr die Endstation im lettischen Grenzort Valka. Dort überqueren wir die lettisch-estnische Grenze zu Fuß und erreichen nach einem 30-minütigen Fußweg um 17.40 Uhr den Bahnhof im estnischen Valga, wo sich auch die Bushaltestelle befindet. Da kein Zug mehr fährt, nehmen wir um 18.00 Uhr den Bus nach Tartu.

 

 

Ankunft in Tartu um 20.00 Uhr, Abfahrt um 7.02 Uhr:

 

In Tartu übernachten wir in einem Hotel in der Nähe des Busbahnhofs. Morgens fahren wir mit dem Schnellzug, der nur an zwei Stationen hält, nach Tallinn. Bis Jogeva ist er sehr langsam und ruckelig, danach gleitet er schneller.

 

 

Ankunft in Tallinn nach 60 Stunden um 9.30 Uhr

 

Vor fünf Jahren fuhren die Züge noch zwischen Riga und Tallinn. Heute fahren dort nur noch Güterzüge. Die estnischen Züge sind auch nicht im Internet unter bahn.de ausgewiesen.

 

Ab Tapa ist die Strecke zweigleisig und elektrifiziert. Die Strecke Tallinn-Tapa-Narva wird mit finanzieller Unterstützung der EU saniert. Das Tempo ist aber noch sehr langsam und auch sehr ruckelig. Nur einige Abschnitte sind bereits saniert. Dort ist das gleitende Tempo auch höher. Der Triebwagen-Zug hat zwei lange Wagen, wobei sich das 1. Klasse-Abteil im 1. Wagen befindet, wo auch der Führerstand ist. Der Zug ist ein Zweirichtungsfahrzeug.

 

Nach 59 Stunden erreichen wir um 9.30 Uhr pünktlich den Bahnhof der estnischen Hauptstadt  Tallinn. Für die 190 km von Tartu bis nach Tallinn benötigten wir  2:28 Stunden, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 77 km/h entspricht. Die Küstenstrecke in Estland ist nicht mehr betriebsbereit. Weil sie 120 km kürzer als die über Tartu ist, wird die Sanierung auch dieser Verbindung diskutiert.

 

In Estland wurde vor etwa fünf Jahren Betrieb und Infrastruktur der Eisenbahn nach britischen Vorbild privatisiert. Seitdem wurde der grenzüberschreitende Personenverkehr zwischen Riga und Tallinn, der lettischen und der estnischen Hauptstadt, unterbrochen. Auch die Busfahrpläne wurden nicht aufeinander abgestimmt. Das Geld wird hauptsächlich mit dem Güterverkehr verdient. Die kilometerlangen Güterzüge – sie transportieren das Öl von  ... nach   - haben auf der eingleisigen Strecke Vorfahrt, was des öfteren zu langen Aufenthalten für den Personenzugverkehr in Estland führt.

 

In Tallinn nahmen wir an den Feierlichkeiten zum 115. Geburtstag der Straßenbahn teil und besichtigten die Ausstellung.

 

 

Fazit:

 

Für die 1689 km lange Strecke haben wir 58:48 Stunden benötigt. Das entspricht einer durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit von knapp 30 km/h. Wir hatten 29 Stunden Zwangsaufenthalte und hielten an mehr als 60 Bahnhöfen. Die Dampflokomotive benötigte 1935 mit 27 Stunden weniger als die Hälfte der Zeit.

 

Nur der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden: Für die 254 km zwischen Berlin und Hannover benötigt der ICE 1:45 Std. Mit diesem Tempo würde man Tallinn nach knapp 11,5 Stunden erreichen.

 

(Im Vergleich Berlin Neapel – 1675 Kilometer 24 Stunden, 70 km/h).

 

Für die 1200 km zwischen Berlin und London benötigt man heute 10:47 Stunden. Würde dieses Tempo auf die Strecke nach Tallinn übertragen, würde die Reisezeit nur gut ein Viertel  der heutigen Fahrzeit betragen.

 

Was tun?

 

Werden die Fahrpläne aufeinander abgestimmt, und der unterbrochene Zugverkehr zwischen Estland und Lettland wieder aufgenommen,  kann die Reisezeit erheblich verkürzt werden. Um wenigstens das Tempo der Dampflokomotive von 1935 wieder zu erreichen ist die Sanierung der langsamen Abschnitte – z.B. der von der polnischen Grenze zum litauischen  Kaunas - notwendig.

 

Priorität hat also nicht die Elektrifizierung, die Zweigleisigkeit oder die Hochgeschwindigkeit. Zunächst muss es darum gehen, innerhalb der erweiterten EU den reibungslosen Zugverkehr über die ehemaligen Grenzen zu ermöglichen, die Grenzkontrollen im fahrenden Zug durchzuführen und die schlimmsten Abschnitte zu sanieren. Es ist ein Offenbarungseid der europäischen Verkehrspolitik, dass diese Maßnahmen – wenig kostenintensiv, aber hocheffizient – nicht schon längst erfolgt sind.

 

Stattdessen wurde und wird über diverse Transrapid-Verbindungen parallel zu bestehenden Schienenstrecken diskutiert. Am Col du Somport, zwischen Spanien und Frankreich, wurde nicht etwa die seit 1970 stillgelegte Eisenbahnstrecke reaktiviert, sondern für 300 Millionen Euro – größtenteils durch die EU finanziert - ein Autobahntunnel durch die Pyrenäen geschlagen, der auf französischer Seite nicht angebunden ist. Auch die Forderung Italiens, eine Brücke nach Sizilien zu bauen, wird den notwendigen Prioritäten in der erweiterten EU nicht gerecht.

 

Der Senat von Berlin, die Bundesregierung und die Europäische Union sind gefordert, das Schneckentempo im Eisenbahnwesen zu bekämpfen und die notwendigen Sanierungsmaßnahmen von Berlin über Warschau zu den Hauptstädten der Baltischen Staaten unverzüglich in Angriff zu nehmen, um den  Güter- und Personenverkehr von der Straße auf die Schiene zu verlagern, was Programm der EU seit Jahren ist.

 

 

Almuth Tharan, Landesvorstandsprechrin

Michael Cramer, verkehrspol. Sprecher