Der Westen ist ein schlechtes Vorbild für China

02. Oktober 2007 zur Übersicht

"Brüsseler Spitzen" im Neuen Deutschland von Michael Cramer

China mit seinen 1,3 Milliarden Menschen wandelt sich in atemberaubendem Tempo vom Agrar- zum Industrieland. Es benötigt schon heute pro Jahr mehr Lebensmittel, verbaut mehr Stahl und verbraucht mehr Energie als die USA. Wer das China dieser Tage besucht, fühlt sich mitunter wie auf einer Zeitreise. Die Luft Pekings und der Autoverkehr erinnern an das London der 60er Jahre. China ist heute der weltweit größte Emittent von CO2 und mitverantwortlich für den menschenbedrohenden Klimawandel. Pro Kopf ist der Schadstoffausstoß zwar noch geringer als in den hoch entwickelten Industriestaaten. In absoluten Zahlen aber sind die Emissionen immens. In anderen Worten: Die Chinesen machen all jenes, was Europäer und Amerikaner seit jeher machen - was allerdings angesichts ihrer Bevölkerungszahl noch folgenreicher ist.
China ist sich der ökologischen Probleme, auch für die eigene Gesellschaft, mehr und mehr bewusst. Doch die Kommunistische Partei reagiert im alten autoritären Stil. Der Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Wu Lihong sitzt in Haft, Nichtregierungsorganisationen und Journalisten, die den Finger in die Umweltwunde legen, beklagen die wiederholten Razzien. Ein funktionierender Umweltschutz muss einhergehen mit freiem Zugang zu Informationen für Bürger, Medien und Forscher, dem Schutz von Aktivisten, die Missstände aufdecken, der Verursacherhaftung sowie der Presse- und Meinungsfreiheit. All das findet kein Gehör bei Chinas KP.
Während sich wirtschaftlich alles bewegt, erscheint der Umgang mit der chinesischen Geschichte der letzten 50 Jahre wie eingefroren. Mao Zedong, der Staatsgründer, wird als Person nach wie vor gottähnlich verehrt - losgelöst von den Inhalten seiner Politik und seiner Ideologie, die der heutigen "sozialistischen Marktwirtschaft" diametral entgegenstehen. Der von ihm als "Kapitalistenhund" gemaßregelte Deng Xiaoping wird totgeschwiegen, obwohl er und nicht Mao der Vater des heutigen Chinas ist. Der Weltbestseller "Wilde Schwäne" von Jung Chang, die das Schicksal ihrer Familie im 20. Jahrhundert beschreibt, insbesondere die Verfolgung der kommunistischen Elite durch die Roten Brigaden in der Kulturrevolution, bleibt verboten, eine Diskussion über die Irrtümer Maos findet nicht statt. Allerdings ist in der Kommunistischen Partei Maos "Kampf zweier Linien" sichtbar: Die einen beschwören den Sozialismus, die anderen den Kapitalismus - selbstredend "made in China".
Die KP Chinas will nach eigenen Aussagen die Fehler der westlichen Industriegesellschaften vermeiden, die noch immer zeigen, wie man Ressourcen vergeuden und die Umwelt rücksichtslos ausbeuten kann. Der Westen ist wenig legitimiert, Chinas neue Kohlekraftwerke zu kritisieren, solange sie hier ohne Rücksicht auf die Folgen geplant und gebaut werden. Wer hier Milliarden in neue Atomkraftwerke statt in Solaranlagen und Windparks investiert, darf sich über die chinesische Ignoranz gegenüber erneuerbaren Energieträgern nicht wundern.
Umweltverschmutzung macht vor Ländergrenzen nicht Halt. Wer das Überleben der Menschheit sichern und die Chinesen von einem nachhaltigen Wachstum überzeugen will, muss mit gutem Beispiel vorangehen. Bisher verbrauchten 18 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent der Ressourcen. Das konnte nur funktionieren, solange die Entwicklungsländer auch Entwicklungsländer blieben. Der Blick nach China, Indien und Brasilien zeigt, dass diese Zeiten vorbei sind. Deshalb ist nachhaltiges Wachstum im östlichen wie im westlichen Teil der Welt heute mehr denn je das Gebot der Stunde!
Neues Deutschland, 07.09.2007