Der letzte Tag im Parlament

26. Juni 2019 zur Übersicht

Artikel erschienen in "DVZ" am 25.6.2019

Am Sonntag endet die Legislaturperiode in Straßburg. Drei deutsche Verkehrspolitiker kehren danach nicht ins Hohe Haus zurück. Sie blicken auf ihre mehrjährige Arbeit dort ­zurück – und sagen, wie es besser laufen könnte.

Die Stimmung ist prächtig. Noch eine Abstimmungsrunde, noch ein wenig das Büro aufräumen – dann ist die parlamentarische Arbeit beendet und die Zeit im Europäischen Parlament (EP) vorbei. Das macht locker: Alle drei feixen und sind stärker zu Scherzen aufgelegt als sonst an einem Mittwoch, dem traditionell wichtigsten Tag der monatlichen Sitzungswochen in Straßburg. Aber bei dem letzten Voten der Legislaturperiode geht es um keines der Themen, für die jeder der drei MEP (Members of European Parliament) brennt.

Deshalb redet Gesine Meissner (FDP) im Vorgespräch ganz gelöst über ihr zweites Enkelkind, Michael Cramer (Grüne) beschäftigt sich seufzend mit einem Fleck auf seinem Jackett, und nur Dieter-Lebrecht Koch (CDU) gibt sich ernst und hält sich bei den Frotzeleien zurück.

„Ich bin gerne hierher gefahren“


Die drei deutschen Abgeordneten überlassen nach 28 (Koch), 15 (Cramer) und zehn Jahren (Meissner) Jüngeren ihre Sitze im Hohen Haus in Straßburg. Da kommt, bei aller guten Laune, auch Nachdenklichkeit auf: „Ich habe mal nachgerechnet“, sagt Koch. „Nach etwa 1.200 Sitzungswochen fällt es mir schon schwer, aufzuhören. Ich bin immer gerne hierher gefahren.“

Meissner „könnte auch noch weitermachen“. Aber „dieser letzte Tag hier in Straßburg ist dennoch nicht mit Wehmut erfüllt. Ich bin nicht froh, dass es vorbei ist. Aber worauf ich gut verzichten kann, sind die ständigen Verspätungen, Staus, die verpassten Flüge, das ständige Koffer packen. Die Arbeit als solche ist mordsspannend und macht mir bis heute, bis zum letzten Tag Spaß.“

„Es tut mir weh, jetzt aufzuhören“


„Es gibt Leute, die sagen, der Koch hat sich ein Denkmal gesetzt für das eine oder andere. Insofern tut es mir richtig weh, jetzt aufzuhören, das muss ich wirklich sagen.“ Koch hat „die Grundlage gelegt“ für den E-Call, den elektronischen Notruf, „mit einem eigenen Initiativbericht“. Und nicht ohne Stolz merkt der scheidende Abgeordnete an, „kann ich jedes Jahr sagen, dass ich mehrere tausend Menschenleben rette“.

Cramer, der Grüne, springt dem CDU-Mann bei: „Der Kollege Koch war im Verkehrsausschuss verantwortlich für die Berichte über Straßenverkehrssicherheit. Und er hat durchgesetzt – mit den Stimmen aller deutschen Abgeordneten – dass wir den Städten in Europa nachdrücklich empfehlen, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen auf den wichtigen Straßen. Das glaubt uns keiner, aber dem haben alle Abgeordneten, auch die von FDP, CDU und CSU, zugestimmt. Da bin ich Dieter Koch immer noch dankbar, dass er das ermöglicht hat.“

„Wir lieben uns eben“


Der freundschaftliche Umgang miteinander verblüfft etwas, gerade am Ende einer Legislaturperiode, bei der – etwa beim Mobilitätspaket – die Abgeordneten hart miteinander gerungen haben und es sowohl im Verkehrsausschuss als auch im EP-Plenum teils sehr unfreundlich zuging. Aber „wir lieben uns eben alle“, sagt Meissner. „Hier im EP ist vieles anders“, ergänzt Cramer. „Ich war 15 Jahre lang Mitglied des Abgeordnetenhauses in Berlin. Da konnte ich Reden halten, zu denen mich meine Kollegen aus unserer Regierungskoalition ausdrücklich beglückwünschten und mir Recht gaben. Um dann sofort hinzuzufügen: ‚Aber wir haben uns im Koalitionsausschuss schon geeinigt. Und dabei bleibt es‘.“

Das machen wir hier im EP ganz anders. Hier gibt es viel mehr Kooperation, und wir verstehen uns als Parlament, nicht so sehr als Partei im Hohen Haus. Definitiv entschieden wird jedes Gesetzesvorhaben ja erst im Trilog, also in der Abstimmung mit der Kommission und den Mitgliedstaaten, dem Rat. Und da ist es wichtig, dass die Position des EP mit einer sehr deutlichen Mehrheit verabschiedet wird. Je mehr Parlamentarier hinter einer Position stehen, desto stärker ist unsere Position im Trilog. Im EP, sagt Cramer unter zustimmendem Nicken seiner Kollegen „habe ich gelernt, farbenblind zu sein“. Und der Grüne erwähnt „Kollegen aus sehr konservativen Parteiengruppen“, mit denen er „verkehrspolitisch sehr eng zusammengearbeitet“ hat.

„Uns trennt manches“


„Natürlich finde ich es auch toll, dass man im EP Mehrheiten quer durch die Fraktionen bilden kann“, schaltet sich Meissner ein. „Aber das sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass uns auch manches trennt. Ich sage nur Öko-Combis.“ Und mit Blick auf Cramer: „Das sind die Fahrzeuge, die du immer Monster-Trucks nennst.“ Aber bevor der Grüne antworten kann, berichtet Koch von eigenen Erfahrungen: „Ich habe einen LKW-Führerschein und habe die Dinger selbst getestet. Und ich bin der Meinung, sie sollten nicht überall fahren.“ „Klar“, sekundiert Meissner. „Es muss viele Strecken geben, auf denen sie einfach nicht fahren dürfen“, greift Koch seinen Faden wieder auf. Meissner nickt: „Richtig.“ „Aber“, sagt Koch wieder, „es sollte auch Strecken geben, auf denen sie sinnvoll eingesetzt werden können.“

„EP ist rechtsnationaler geworden“


Lange muss der CDU-Mann aus Thüringen überlegen, bevor er auf die Frage nach seinem übelsten Erlebnis im EP antwortet. Und er nennt eine Erfahrung aus den letzten Wochen der zu Ende gehenden Legislaturperiode: „Enttäuscht bin ich jetzt schon zum fünften Mal, dass am Ende einer Legislaturperiode der nationale Egoismus unter den Abgeordneten immer stärker hervortritt.“

Dazu Meissner: „Mein schönstes Erlebnis war eine Ozean-Konferenz, die ich als Sondergesandte für Meerespolitik erreicht habe. Ich bin ja sehr maritim gepolt. Ich wollte, dass überall im Parlament große Banner stehen, die auf die Rolle des Ozeans für das Klima und unsere Zukunft hinweisen. Und das hat geklappt.“ Und das weniger schöne Erlebnis? „Das EP ist nach der Wahl 2014 rechtsnationaler geworden. Wir haben hier mehr Leute reinbekommen, die intolerant und anti-europäisch sind.“

Ihr allerschlimmstes Erlebnis, „das hat mir richtig körperlich weh getan“, war eine Reaktion der AFD-Abgeordneten Beatrix von Storch in einer Debatte über Gewalt gegen Frauen. „Ich habe teilgenommen und es ging um Genitalverstümmelung und Vergewaltigung als Kriegswaffe. Da hat sie sich zu Wort gemeldet und gesagt, das sei nur Gender-Gaga. Wir seien wohl alle auf Droge. Menschenverachtend.“

„14 Mrd. Mehrkosten stören keinen“


Auch der Grüne will unbedingt sein „schlimmstes Erlebnis“ als Europa-Abgeordneter loswerden. „Das war, als rauskam, dass die Neubau-Bahnstrecke zwischen Lyon und Turin nicht die veranschlagten 12 sondern 26 Mrd. EUR kosten wird. Und dass es niemanden störte: 14 Mrd. EUR mehr, damit statt fünf jetzt sieben Hochgeschwindigkeitszüge da fahren. Nicht pro Stunde, pro Tag.“

Für Cramer, der sich vehement für Lückenschlüsse im europäischen Bahnnetz einsetzt, war das eine Art Super-Gau. „Es gibt grenzüberschreitende Verbindungen, die lassen sich für 100 Mio. EUR schneller und effizienter machen. Das gilt vielen als zu teuer. Aber 14 Mrd. mehr bei Lyon–Turin ist kein Problem.“

„Plötzlich ticken sie dann national“


Im Gesetzgebungsprozess der EU gelten der Rat, also die Regierungen der Mitgliedstaaten, und das EP zumeist als Gegenspieler. In aller Regel, aber nicht immer, bremst der Rat, während die Parlamentarier mehr wollen. Meissner: „Die meisten Regierungen betonen ja ständig ihre Liebe zu Europa. Aber wenn sie europäischen Vorschlägen zustimmen sollen, dann ticken sie plötzlich ganz national. Das ärgert mich fürchterlich.“

Koch wirft ein, dass „wir den Rat natürlich brauchen, um ein Gesetz in Kraft treten zu lassen. Aber manchmal wünsche ich mir, sie wären schneller, gingen mehr auf das ein, was wir machen. Reiserechte, auch für Menschen mit Behinderung, ist ein Thema, das seit über zwei Jahren im Rat liegt. Die werden sich einfach nicht einig.“

„EP wird unterschätzt“


Dann die ständigen Sondergipfel, auf denen die Staats- und Regierungschefs versuchen, uns zu dominieren und Kompetenzen an sich zu reißen, die sie eigentlich nicht haben. Das fängt bei Haushaltsfragen an und hört bei Migration noch nicht auf. Ich glaube, die Bedeutung des EP wird im Rat unterschätzt.“

Der CDU-Mann plädiert dafür, dass „wir uns in Zukunft wieder starkmachen. Wir müssen erreichen, dass das EP wieder im Zentrum steht. Das ist die Demokratie, die ich mir vorstelle. Nicht die Diktatur der Staats- und Regierungschefs.“

Meissner nickt zustimmend. Cramer weist daraufhin, dass „wir im Gegensatz zu den nationalen Parlamenten hier nicht eine Regierung stützen. Wir sind als EP eine eigene Institution. Und wenn wir stark sind, können wir uns gegen die Regierungen, also gegen den Rat durchsetzen.“ Der Grüne nennt das Signal- und Sicherungssystem ERTMS auf der Schiene oder die Passagierrechte im Bahnverkehr, bei dem nationale Egoismen auch von Behörden wie etwa dem Eisenbahn-Bundesamt eine effiziente Einigung lange be- aber am Ende nicht verhinderten. „Wir haben es durchgekriegt, weil wir als Parlament stark waren.“

Eine „kleine, aber vielsagende“ Anekdote will der Grüne zu dem Thema noch loswerden: „Als wir die Passagierrechte bei der Bahn endlich durchgesetzt hatten, musste der Bundestag das in ein deutsches Gesetz überführen. Die damalige Justizministerin Brigitte Zypries von der SPD hat das als Gesetzentwurf eingebracht und mit keinem Wort erwähnt, dass das Thema aus Europa kommt. Als aber die Opposition in Berlin den Entwurf verschärfen wollte, konterte die Ministerin: ‚Das verbietet die EU.‘ Völliger Quatsch. Wir beschließen hier Mindeststandards, über die jedes Mitgliedsland hinausgehen kann. Also: Kein positives Wort über die EU, und sie wird mit falschen Informationen als Bremsklotz dargestellt.“

Alle drei der scheidenden Abgeordneten haben Beispiele parat, wie in den nationalen Hauptstädten und auch in Berlin das „Schwarze-Peter-Spiel“ (Koch) beherrscht wird: Das Gute, das sind die nationalen Regierungen, das Schlechte, also das, was den Bürger ärgern könnte, das ist die EU, das ist Brüssel.

„Wir entscheiden europäisch“


Im EP sehen die drei weniger Handlungsbedarf. „Ich denke“, sagt Meissner, „beim EP muss man gar nicht so viel verändern. Klar, alle Parteien fordern das Recht, Gesetzentwürfe einbringen zu dürfen. Das Initiativrecht.“

Sie möchte vor allem, „dass die nationalen Parlamente kapieren, dass wir hier europäisch entscheiden. Als Deutsche denken wir natürlich an die Situation in unserem Land – aber immer auch an die Konsequenzen für andere EU-Staaten.“

Als größte Herausforderung für die EU-Verkehrspolitik nennt der Grüne Cramer den Klimawandel. „Da spielt der Verkehr eine zentrale Rolle, denn er ist der einzige Sektor, in dem die Kohlendioxid-Emissionen seit 1990 um ein Viertel gestiegen sind. Ohne eine Veränderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen.“ Der CDU-Mann Koch will eine Aufwertung von „Transport, Logistik und Mobilität: Das sind die am meisten unterschätzten Politikfelder – auch in Deutschland. Und sie sind die Grundlage für gesellschaftliches Leben. Die DDR hat sich auch deshalb aufgelöst, weil dort die Mobilität eingeschränkt war“, unterstreicht der Abgeordnete aus Thüringen. Er unterstützt Cramer „voll“ beim Thema Nachhaltigkeit des Verkehrs. Aber er will den Verkehr nicht durch eine reduzierte Mobilität umweltfreundlich machen, „sondern mit neuen Technologien, neuen Methoden und Verfahren“. Meissner fordert einen Ausbau der Verkehrswege, ausdrücklich auch der Wasserstraßen, nicht nur der Schienenwege.

Für die Politikziele werden sich die Nachfolger der drei einsetzen müssen. Sie haben versucht die Jüngeren, die mit der parlamentarischen Arbeit in Straßburg und Brüssel beginnen, für den Verkehrsausschuss zu interessieren. „Ich habe heftig geworben“, sagt Meissner. Aber nicht sehr erfolgreich. „Die wollen alle in den Industrie- oder in den Justizausschuss.“ Koch und Cramer bestätigen die Erfahrungen.

„Es geht nicht um die Farbe“


Neben dem Hinweis, sich für den Verkehrsausschuss zu interessieren, würde Koch den Nachfolgern empfehlen, „dafür zu kämpfen, dass das Haus ein richtiges Initiativrecht bekommt“. Cramer findet es wichtig, ihnen mitzugeben, „dass es nicht um die Farbe geht, sondern darum, eine Basis für gute Zusammenarbeit zu finden und das EP so zu stärken. Und ich würde ihnen raten, eine gute Verbindung zu den Abgeordneten im Bundestag aufzubauen.“

Meissner will, dass sie „alles tun, um den Bürgern möglichst einfach zu erklären, was Europa Tolles für sie macht.“ Aber die Neuen sollen sich auch „dafür einsetzen, dass die EU reformiert wird. Wir brauchen nicht zwei Standorte für das EP, Straßburg und Brüssel, wir brauchen nicht 27 Kommissare und einen Kommissionspräsidenten. Und dann stimme ich Michael ganz klar zu: Kontakt halten mit den Parlamentariern zu Hause, aber sich ihnen gegenüber selbstbewusst aufzustellen.“

Und Koch fügt noch an: „Ich habe meiner Nachfolgerin gesagt: Mit dem Kopf durch die Wand geht in Brüssel nicht. Ihr müsst Brücken bauen zu anderen Ländern, zu anderen politischen Familien – nur dann kann man dort etwas erreichen.“