Von Remo Hess
«Die Schweiz kann nur so europäisch handeln, weil sie nicht in der EU ist.» Diesen Satz hört man von Michael Cramer stets, wenn die Rede auf die europäische Bahnpolitik kommt. Der 69-jährige EU-Parlamentarier von den Grünen ist Verkehrspolitiker durch und durch und in dieser Funktion «Freund und Bewunderer der Schweizer Bähnler», wie Cramer sagt. Auf seinem Arbeitstisch im sechsten Stock des EU-Parlaments steht ein SBB-Zug in Modellform. Mit Benedikt Weibel, dem ehemaligen SBB-Chef verbindet ihn eine freundschaftliche Beziehung.
Wenn Cramer von der Schweizer Eisenbahnpolitik spricht, gerät er ins Schwärmen. Die LSVA-Schwerverkehrsabgabe, mit welcher der Ausbau der Schweizer Bahninfrastruktur querfinanziert wird, müsste ein Vorbild für ganz Europa sein. Stattdessen jedoch gehe die Entwicklung genau in die andere Richtung, wie man in seinem Heimatland Deutschland gut beobachten könne. Dort sei die Schienengebühr in den letzten Jahren um 16 Prozent erhöht worden, während die LKW-Strassenmaut um 13 Prozent gesenkt wurde. Es sei geradezu peinlich, dass es in Deutschland noch immer etliche unelektrifizierte Strecken gebe, die besonders den grenzüberschreitenden Bahnverkehr schwer behindern würden. Hier habe auch das Desaster um die Streckenblockierung bei Rastatt gezeigt, wie sehr es in Deutschland an kompetenter Planung und vernünftigem Investitionsmanagement fehle.
Bestätigt fühlt sich Cramer durch den gestern veröffentlichten Bericht des Europäischen Rechnungshofes, der die Verwendung europäischer Mittel überprüft. Demnach gestalte sich der Ausbau des Bahn-Hochgeschwindigkeitsnetzes in Europa als «ineffizienter Flickenteppich ohne realistischen Plan». Strecken würden ohne grenzüberschreitende Koordinierung und oft aufgrund politischer Erwägungen anstatt von Kosten-Nutzen-Analysen gebaut, heisst es in dem Bericht. Budgetüberschreitungen und Verzögerungen seien nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das Resultat seien überteuerte und schlechte Verbindungen, auf denen bloss zu 45 Prozent auf Höchstgeschwindigkeit gefahren werde.
Dem Befund kann Cramer nur zustimmen: «Anstatt dort zu investieren, wo es nötig wäre, werden die Bedürfnisse der Baulobby bedient und in unsinnige Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 oder den Ausbau der Linie Lyon–Turin vorangetrieben». Besonders ärgert Cramer, dass Deutschland und Italien ihren Verpflichtungen im Rahmen des Vertrags von Lugano von 1996 nicht nachkommen. Cramer: «Die Schweizer haben ihren Teil eingehalten und den Gotthard-Basistunnel sowie die Zufahrtsstrecken pünktlich fertiggestellt.» In Italien hingegen schaffe es man auch nach Jahrzehnten nicht, den Ausbau der Strecke Genua–Chiasso voranzutreiben. In Deutschland gelte dasselbe für Karlsruhe–Basel. Cramer fordert, dass die EU-Mitgliedstaaten «keinen einzigen Euro» für ihre Bahnprojekte aus dem EU-Budget mehr erhalten, solange sie nicht für Ausbauten mit europäischem Mehrwert eingesetzt würden. Cramer: «Wenn man sich in der Schweiz veräppelt fühlt, dann ist das nur zu gut verständlich.»