Barrot fortschrittlicher als erwartet

30. November 2004 zur Übersicht

Michael Cramer über den designierten Verkehrskommissar und Vizepräsidenten der EU-Kommission, Jacques Barrot:

Selbstverständlich ist der konservative Jacques Barrot kein grüner Verkehrskommissar. Überraschenderweise entpuppte er sich aber doch erheblich fortschrittlicher, als man aufgrund seiner vorbereiteten schriftlichen Antworten erwarten konnte. Seine mündlichen Ausführungen zeigten eine größere Aufmerksamkeit für die öffentlichen Verkehrssysteme, für die Schiene und für das Zusammenwachsen Europas. Nur auf Nachfrage einer ungarischen Abgeordneten sprach er über die Straße. Beachtenswert waren auch seine klaren Positionen bei der Beschränkung von Staatsbeihilfen für den Flugverkehr, zu verschärften Straßenverkehrskontrollen zugunsten der Sicherheit und für die Internalisierung der externen, sozialen und Umweltkosten.

Trotzdem gibt es für die Grünen verschiedene Gründe, sich große Sorgen über die Europäische Verkehrspolitik zu machen. Mit allgemeinen und kurzen Sätzen wich Barrot der Frage über die Integration des Klimaschutzes in die Verkehrspolitik aus. Denn nach Auffassung der Grünen wird die Europäische Union ohne eine Wende in der Verkehrspolitik die Vereinbarungen von Kyoto nicht erfüllen. Und nachdem nun auch Rußland das Abkommen ratifizieren wird, gibt es kein Zurück mehr. Hier ist Barrot, hier ist die gesamte Kommission und jeder einzelne Mitgliedstaat gefordert.

Wenig zufrieden stellend waren seine Antworten hinsichtlich der negativen Auswirkungen von Infrastrukturprojekten auf Natur- und Landschaftsschutz - insbesondere in sensiblen Regionen wie etwa den Alpen. Auch seine uneingeschränkt positive Haltung zur Binnenschifffahrt - wobei er nicht differenzierte, ob sich die Schiffe den Flüssen oder die Flüsse den Schiffen anzupassen haben - konnte wenig überzeugen. Vom Konzept "Verkehrsinfrastruktur schafft Wirtschaftwachstum und Arbeitsplätze" scheint er sich noch nicht verabschiedet zu haben.

Die "Eurovignette" betrachtet er zwar nur als ersten Schritt in Richtung Internalisierung der externen Kosten, weitere konkrete Maßnahmen konnte er aber nicht benennen. Obwohl Barrot die Notwendigkeit der Kostenwahrheit bei der Luftfahrt unterstreicht, ist er nicht geneigt, unverzüglich eine Abgabe auf Kerosin einzuführen.

Soziale Fragen - auf europäische Ebene dringend harmonsierungsbedürftig - haben auf seiner verkehrspolitischen Tagesordnung keine Spitzenstellung. Dass seine Vorgängerin de Palacio mit einem erneuten Vorstoß zum Seehafenpaket doch noch schnell die umstrittene Selbstabfertigung wieder einführen will, scheint ihn nicht zu stören.

Barrot wird Wirtschaftsinteressen und Konkurrenzregeln weiterhin als Basis der europäischen Verkehrspolitik betrachten. Es wird schwierig und nötig sein, ihn von der Wichtigkeit anderer Ziele wie Verkehrsbewältigung/-vermeidung, dem Interesse der BürgerInnen und von Umweltaspekten zu überzeugen.

Der designierte Kommissar, der vor seiner Anhörung die verkehrspolitischen Sprecher der Fraktionen besuchte, will die Meinung des Parlaments achten und in seine Entscheidungen einbeziehen. Wenn seinen Worten Taten folgen, kann es eine fruchtbare Zusammenarbeit geben. Alle Fraktionen des Europäischen Parlaments gaben ein positives Votum für Jacques Barrot ab.