Die Skandale hatten überhand genommen. Und die Krise des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz war offensichtlich so virulent, dass selbst Innensenator Werthebach keinen anderen Ausweg sah, als das Amt komplett aufzulösen, den Chef in Pension zu schicken und die Mitarbeiter dem Arbeitsmarkt des Öffentlichen Dienstes zur Verfügung zu stellen.
Mit der neuen Leiterin, Claudia Schmid, steht zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik nicht nur eine Frau an der Spitze einer solchen Behörde, sondern auch - ebenfalls zum ersten Mal - eine ausgewiesene Datenschützerin. Sie hatte sich als stellvertretende Berliner Datenschutzbeauftragte entschieden gegen den "Großen Lauschangriff" der Kohl-Regierung gewehrt und dafür gesorgt, dass die Berliner Polizei ihre "Prostituiertenkartei" vernichten musste. In ihrem neuen Amt wird sie Daten sammeln müssen, statt welche zu schützen. Ihr zur Seite gestellt wird der bisherige Leiter des polizeilichen Staatsschutzes, Peter-Michael Haeberer, der sich - wie man hört - von den Positionen und Auffassungen seines Chefs, Hagen Saberschinski, wohltuend unterscheidet. Als einer der wenigen hatte er z.B. die Gefahr des Rechts-Terrorismus frühzeitig erkannt. Deshalb haben auch die Oppositionsfraktionen diese Personalentscheidungen als mutigen Schritt kommentiert.
Die chronique scandaleuse des Landesamtes für Verfassungsschutz: Gezielte und zum Teil fehlerhafte Indiskretionen über ungeliebte Mitarbeiter, das gegenseitige Mobbing, die Verwicklung in einen politischen Mord wie beim Schmücker-Skandal, das permanente Vertuschen und Verdunkeln, der weit verbreitete Dilettantismus usw. In den 80er Jahren wurde der damalige innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Erich Pätzoldt, beschattet.
Gleichzeitig wurden über 60 Spitzel bis in die höchsten Parteigremien der Alternativen Liste platziert. Die Bespitzelung der Opposition war nicht nur in Ost-Berlin unter Erich Honecker, sondern auch in West-Berlin unter Eberhard Diepgen tägliche Praxis. Der Unfähigkeit des Landesamtes wurde auch offenkundig bei der Stasi-Nummer des CDU-Innensenators Lummer, dem Mykonos-Attentat und bei der Erstürmung des israelischen Generalkonsulats.
Mit Ausnahme der rot-grünen Regierungsphase 1989/90 unter Innensenator Pätzoldt (SPD) haben die Behördenchefs des LfV und auch die Innensenatoren zu keinem Zeitpunkt zugegeben oder erkannt, in welchem Ausmaß ihr eigenes Verhalten Fehlentwicklungen gefördert bzw. zugelassen und gedeckt hat. Immer wurde behauptet, alles sei richtig, man sei auf einem guten Weg, während hektisch nach den undichten Stellen geforscht wurde. Das Amt lief aus dem Ruder, die undichten Stellen wurden immer undichter und die Indiskretionen immer indiskreter.
Zu den internen Problemen kam dann auch noch die Beschäftigung zwielichtiger Gestalten, deren Einsatz als V-Leute zu öffentlichen Skandalen mutierte. Beispielhaft sei die Rekrutierung ehemaliger Stasi-Spitzel als V-Leute genannt, die vom früheren Innensenator Schönbohm zunächst geleugnet und schließlich kleinlaut zugegeben wurde. Noch gut in Erinnerung ist auch die Denunzierung des Polizeidirektors Otto Dreksler als vermeintliches Scientology-Mitglied.
Die internen Arbeitsanweisungen wurden offensichtlich ignoriert, so dass die angeworbenen zwielichtigen Gestalten häufig als Agent provocateure auftraten, deren Übereifer das Landesamt nicht zu bremsen vermochte. Zudem fand eine ordentliche Personalführung nicht statt. Der in den vorzeitigen Ruhestand versetzte letzte Chef, Eduard Vermander, bezeichnete sein Amt kurz vor Toresschluss als "besseres Detektivbüro".
Über die Stadtgrenzen hinaus hat sich dieses Skandal-Amt einen so zweifelhaften Ruf erworben, dass selbst Innensenator Werthebach, einst oberster Schlapphut der Republik, das Landesamt für Verfassungsschutz auflöste. Aus dem Begründungstext des Auflösungsgesetzes: "Das Landesamt für Verfassungsschutz Berlin ist seit Jahren in negativen Schlagzeilen."
Die spannende Frage ist natürlich die, ob die neue, dem Innensenator untergeordnete Abteilung, grundsätzlich etwas anderes ist als das frühere Landesamt für Verfassungsschutz.
Davon kann keine Rede sein, weshalb die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dem neuen Verfassungsschutzgesetz auch nicht zugestimmt hat. Denn mit der Umstrukturierung ist keine Neudefinition der Aufgaben und auch keine Umwandlung zu einer öffentlich arbeitenden Informations-Sammelstelle verbunden. Wir haben uns aber durch Änderungsanträge in die Beratung eingemischt, um eine möglichst effiziente parlamentarische Kontrolle und Transparenz durchzusetzen. Auf unsere und die Initiative des Datenschutzbeauftragten sah sich die Große Koalition gezwungen, ihren Entwurf in wesentlichen Bereichen nachzubessern. Nicht durchgesetzt haben wir eine Vorab-Information beim Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Erreicht wurde aber, dass zukünftig "die näheren Voraussetzungen" für deren Anwendung in einer Verwaltungsvorschrift geregelt und diese dem parlamentarischen Ausschuss für Verfassungsschutz vorab zur Kenntnis gegeben werden.
Darüber hinaus muss der Senat den Ausschuss regelmäßig über die Durchführung von Abhörmaßnahmen, Postkontrollen und Lauschangriffen unterrichten. Gegen den Willen von Innensenator Werthebach wird dem Ausschuss in Zukunft mitgeteilt, in welchen Beobachtungsfeldern solche Maßnahmen ergriffen wurden, aus welchen Gründen dies geschah und zu welchem Ergebnis die Einschränkung von verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsrechten geführt hat. Erstmals werden damit Maßnahmen des Verfassungsschutzes einer parlamentarischen Kontrolle unterzogen. Bisher wurde dem Verfassungsschutz-Ausschuss nur die Anzahl der jeweiligen Maßnahmen mitgeteilt ohne Angaben darüber, ob sie den Linksextremismus, den Rechtsextremismus, den Ausländerextremismus oder die Spionageabwehr betrafen.
Problematisch ist die Personalentscheidung für die im Gesetz vorgesehene Vertrauensperson, die zwischen dem Parlamentsausschuss und der Behörde im Konfliktfall vermitteln soll: Ausgewählt wurde dafür der ehemalige Verfassungsschutz-Chef aus Nordrhein-Westfalen, Fritz-Achim Baumann. Unserer Ansicht nach kann eine Vermittlerfunktion nur eine unabhängige Persönlichkeit erfüllen, die gewohnt ist, die Arbeit von Behörden für die Öffentlichkeit transparent zu machen. Eine Person aus dem Geheimdienst-Apparat ist von vornherein Partei. Wir hatten stattdessen für diese Funktion den Berliner Datenschutzbeauftragten vorgeschlagen. Er hat das notwendige Renommé und ist bereits mit der Verfassungsschutz-Materie vertraut, da er z.B. bei abgelehnten Akteneinsichtsanträgen von Einzelpersonen angerufen werden kann. In Niedersachsen hat der Datenschutzbeauftragte eine solche Funktion, seitdem das entsprechende Gesetz während der rot-grünen Regierungszeit reformiert wurde.
Fritz-Achim Baumann können wir keinen Vertrauensvorschuß geben, weil es unter seiner Verantwortung Skandale gab, die er vertuschen wollte. So verteidigte er den ehemaligen rechtsextremistischen V-Mann Bernd Schmitt selbst dann noch, als die Staatsanwaltschaft gegen ihn schon wegen Unterstützung einer verbotenen rechtsextremistischen Organisation ermittelte. Über die Verteidigung dieses V-Manns - "das war szenetypisches Verhalten" (Baumann) - wunderte sich selbst die FAZ am 10. Juni 1994. Schmitt betrieb nämlich eine Kampfsportschule, in der rechtsradikale Skinheads ausgebildet wurden. Darunter befanden sich die späteren Attentäter von Solingen, die einen mörderischen Anschlag auf das Haus der türkischen Familie Genc verübt hatten. Dabei gab es nicht nur zahlreiche Schwerverletzte - drei Kinder und zwei Erwachsene wurden getötet.
Im Gegensatz zu Herrn Baumann führt Herr Garstka sein Amt seit Jahren tadellos. Deshalb wäre der Berliner Datenschutzbeauftragte die bessere Lösung gewesen. Wir befürchten auch, dass sich ein Konstruktionsfehler des Gesetzes negativ auswirken wird: Der Vermittler kann nämlich nur mit einer Mehrheit der Ausschuss-Mitglieder eingeschaltet werden. Dadurch können die Regierungsparteien im Verfassungsschutz-Ausschuss verhindern, dass er tätig wird.
Bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen ist das anders: Hier genügen 25 Prozent, wodurch die Opposition ein wirksames Kontrollinstrument gegenüber den Regierungsfraktionen hat.
"Neues Klima" beim Verfassungsschutz bedeutet für uns vor allem rechtzeitige und umfassende Information, weg vom Geheimdienst, hin zu einer Dienstleistungsbehörde, die die Öffentlichkeit informiert, insbesondere über die Gefahren von rechts. Wir wissen, dass die Beobachtung der linken Szene der großen Koalition bisher doppelt so viel Geld wert war wie die Überwachung des Rechtsextremismus. Angesichts der gewalttätigen Terroranschläge, die durch Fremdenhass, Rassismus und Antisemitismus motiviert sind, ist das ein Skandal. Das muss sich auf jeden Fall ändern.
Wir werden auch weiterhin die Arbeit des Verfassungsschutzes aufmerksam und kritisch unter die Lupe nehmen. Die angekündigten Reformen dürfen sich nicht darin erschöpfen, dass die Villa Schlapphut geschlossen wird, die Schlapphüte aber so, wie sie waren, erhalten bleiben.