Erst heute, nach dem Ende des kalten Krieges, ist ein unverstellter Blick auf den Volksaufstand am 17. Juni 1953 möglich.
Anrede,
Der 17. Juni 1953 war zunächst ein klassischer Arbeiteraufstand, dem sich schnell weite Teile der Bevölkerung anschlossen. Er war der erste Aufstand im sowjetischen Machtbereich nach dem 2. Weltkrieg. Ihm folgten die Revolution in Ungarn (1956), der Prager Frühling in der Tschechoslowakei (1968) und die Solidarnosc-Bewegung in Polen (1980-1981). Sie alle wurden gewaltsam niedergeschlagen.
Der 17. Juni 1953 war das erste Ereignis, das Deutschland nach dem 2. Weltkrieg in der Welt wieder respektabel machte. Es beteiligten sich in 700 Städten und Gemeinden über 1 Millionen Menschen. Dabei kam es zu Streiks, Demonstrationen und Kundgebungen, zu Erstürmungen staatlicher und öffentlicher Gebäude. In den Tagen und Wochen danach wurden fast 15.000 Personen verhaftet, über 2.000 sind von sowjetischen und ostdeutschen Gerichten verurteilt worden. Sowjetische Standgerichte erschossen achtzehn Menschen, zwei wurden von ostdeutschen Gerichten zum Tode verurteilt. Mehr als sechzig Demonstranten kamen auf den Straßen und Plätzen bei Demonstrationen oder Erstürmungen öffentlicher Gebäude ums Leben.
Wir gedenken dieser Opfer in solidarischer Anerkennung.
Erwähnt werden muss auch, dass mehr als zehn SED-Funktionäre und Mitarbeiter der Polizei- und Sicherheitsorgane der DDR den Tod fanden.
Entzündet hatte sich der Aufstand an den von der Regierung beschlossenen Normerhöhungen. Die zentralen Forderungen der Demonstranten waren aber hochpolitisch und für die Verhältnisse in der DDR revolutionär:
- Freie und geheime Wahlen in ganz Deutschland
- Aufhebung der Zonengrenzen und Friedensvertrag für ganz Deutschland
- Freiheit für alle politischen Gefangenen
Die Unzufriedenheit in der DDR hatte insbesondere nach der 2. SED-Parteikonferenz vom Juli 1952 zugenommen, auf der der "Aufbau des Sozialismus" beschlossen wurde. Das bedeutete zum einen die Konzentration der finanziellen und ökonomischen Ressourcen auf die Schwerindustrie zu Lasten der alltäglichen Versorgung der Bevölkerung und zum anderen die aus ideologischen Gründen forcierte Übertragung des sowjetischen Systems auf die DDR.
Die Kollektivierung der Landwirtschaft, der Kirchenkampf - insbesondere gegen die Mitglieder der "Jungen Gemeinde" - und die Aktionen gegen selbstständige Unternehmer, Handwerker und Gewerbetreibende führte nicht nur zu einer starken Versorgungskrise, sondern auch zu einer wachsenden Zahl politischer Häftlinge (70.000) und einer vehement ansteigenden Fluchtbewegung (300.000 Flüchtlinge im ersten Halbjahr 1953). Die Situation in der DDR war so dramatisch, dass selbst die sowjetische Führung nach Stalins Tod im März 1953 die SED-Spitze aufforderte, den eingeschlagenen Weg nicht fortzusetzen.
Die Männer und Frauen des 17. Juni hatten schon früh Mut und Zivilcourage bewiesen und sich für Demokratie und Menschenrechte eingesetzt. Einer von ihnen war Heinz Brandt. Der Kommunist und KZ-Häftling war 1953 SED-Sekretär der Ost-Berliner Bezirksleitung und unterstützte die streikenden Arbeiter von Bergmann-Borsig. Im August 1953 wurde er deshalb aller Partei-Ämter enthoben und floh 1958 in die Bundesrepublik. 1961 wurde er vom Staatssicherheitsdienst der DDR entführt und zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Nach internationalen Protesten wurde er 1964 freigelassen und schrieb das Buch: "Ein Traum, der nicht entführbar ist". Aber auch in der Bundesrepublik zeigte er Zivilcourage und Engagement für Demokratie und Freiheit. Er nutzte seine internationalen Kontakte, um das nach dem britischen Nobelpreisträger benannte "Russell-Tribunal" gegen den von der sozial-liberalen Koalition und allen Ministerpräsidenten auf den Weg gebrachten "Radikalenerlass" in der BRD zu organisieren. Nicht nur Heinz Brandt, auch große Teile meiner Generation hatten sich damals unter "mehr Demokratie wagen" etwas anderes als "Berufsverbote" vorgestellt. In der Praxis der Berufsverbote sah 1978 nicht nur das Russel-Tribunal, sondern 1995 auch der Europäischen Gerichtshof in Straßburg eine Verletzung der Menschenrechte.
Aber Heinz Brandt war eben nicht einäugig. Mit demselben Engagement setzte er sein Kämpferherz auch für ein Russel-Tribunal zur Situation der Menschenrechte in der DDR ein. Leider hatte er damit keinen Erfolg.
Mit Heinz Brandt und anderen bekommen die Unbekannten des 17. Juni einen Namen. Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen unterstützt und begrüßt es ausdrücklich, dass in Pankow eine Straße nach Heinz Brandt benannt wird. Das ist ein guter Anfang, weitere Personen müssen folgen.
Den 17. Juni erlebte Wolfgang Leonhardt, der Autor des Buches: "Die Revolution entlässt ihre Kinder" im blockfreien Jugoslawien, wo der Aufstand gegen Bürokratie, Diktatur und Verrat am Sozialismus von jubelnden Menschenmassen auf den Straßen gefeiert wurde. Für Leonhardt, einen profunden Kenner der Sowjetunion, war er die Ouvertüre vom Niedergang und Fall des sowjetischen Imperiums und weniger ein Tag der nationalen denn der europäischen Einheit. Für ihn und auch für uns ist der 17. Juni 1953 ein Tag der Selbstbefreiung und der revolutionären Emanzipation.
In der DDR wurde der Aufstand des 17. Juni offiziell verleugnet, er galt als "faschistischer Putsch", der von westlichen Geheimdiensten langfristig organisiert und durchgeführt worden sei. Bis zum Ende der DDR war er für die Machthaber Inbegriff der Bedrohung durch das eigene Volk und damit Grund und Anlass, das "gefährliche" Volk zu bespitzeln, einzuschüchtern und einzumauern. Die These, dass der Aufstand von westlichen Geheimdiensten gesteuert wurden, konnte die SED niemals belegen.
Das hindert allerdings den Ehrenvorsitzenden der PDS, Hans Modrow, keineswegs, den 17. Juni heute folgendermaßen einzuschätzen: Im Tagesspiegel vom Dienstag wird er folgendermaßen zitiert: "Westdeutsche und Westberliner Kräfte, darunter Medien, mischten sich völkerrechtswidrig in die damaligen inneren Auseinandersetzungen der DDR ein". Außerdem rechtfertigt Modrow die Inhaftierungen und Schuldsprüche. Das ist ein Skandal!
Denn auch nachdem die Stasi-Akten zugänglich sind, wissen wir, dass es sich - ohne Unterstützung der Intelligenz - um einen spontanen Arbeiter-Aufstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung handelte, ein Aufstand nach dem klassischen Drehbuch sozialistischer Revolutionstheorie. Er überraschte die Geheimdienste nicht nur im Osten, sondern auch die im Westen.
Im Westen wurde der 17. Juni seit 1954 als Tag der deutschen Einheit begangen. Während in den ersten Jahren noch Hunderttausende des Tages gedachten, wurde er in den letzten Jahren überwiegend als willkommener Urlaubstag denn als Gedenktag genutzt. Außerdem passte er nicht in die Entspannungspolitik. Deshalb wurde - unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung - der 17. Juni mehr und mehr aus dem öffentlichen Gedenken zurückgedrängt.
Klaus Harpprecht, Journalist und Buch-Autor über den 17. Juni nennt ihn den ersten Schritt auf dem langen Weg bis zum 9. November, einen Zusammenhang, den Herbert Wehner am 1. Juli 1953 im Deutschen Bundestag bereits mit folgenden Worten voraussagte: "Und das alles mündete in dieses glühende Bekenntnis, für das in Berlin an einem Tag ein fast hundertprozentiger Generalstreik war und für das in der Zone Hunderttausende unter Lebensgefahr gestreikt haben, in dieses glühende Bekenntnis: Wir wollen nicht mehr in einem gespaltenen Deutschland leben, wir wollen Wiedervereinigung! Das mag etwas sein, das uns berechtigt, mit einem Wort von Karl Marx zum Gedenken an die Juni-Kämpfer von Paris des Jahres 1848 zu sagen: Die Arbeiter sind zwar geschlagen worden, aber sie sind nicht besiegt. (Lebhafter Beifall im ganzen Haus, außer bei der KPD.) Besiegt sind ganz andere, das wird die Geschichte lehren!"
50 Jahre später kennen wir die Lehren der Geschichte. Im Sinne von Sören Kierkegaard: "Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden" können wir heute sagen, dass sich das Vermächtnis des 17. Juni am 9. Oktober 1989 erfüllte, als in Leipzig in der entscheidenden Phase der "friedlichen Revolution" der Mut der Demonstranten größer war, als die Angst vor der Staatsgewalt und sie zu Zehntausenden auf die Straße gingen. Diesem 9. Oktober folgte dann der 9. November 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer.
Und wenn es für diesen Zusammenhang noch eines Beweises bedürfte: Am 31. August 1989 hat kein geringerer als Stasi-Chef Erich Mielke vor vertrauten Genossen ängstlich gefragt: "Ist die Situation etwa so, dass ein zweiter 17. Juni bevorsteht?"
Ja, die Situation war so. Heute, 50 Jahre danach, ist das Interesse an den Ereignissen des 17. Juni riesengroß. Allein die Filme in der ARD und im ZDF wurden von mehr als 9 Mio. Zuschauerinnen und Zuschauern gesehen. In Berlin finden über 500 Veranstaltungen statt und die "Handreichung für den Unterricht", die das Berliner Landesinstituts für Schule und Medien (LISUM) zusammen mit dem Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen herausgegeben hat, ist eine sehr gute Grundlage nicht nur die Defizite der Schüler sondern auch die mancher Lehrer zu beheben.
Der 17. Juni 1953 gehört zu den wenigen positiven Tage in der deutschen Geschichte: Die März-Revolution von 1848, die November-Revolution von 1918, der Aufstand vom 17. Juni 1953 und die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989, ohne die es den 9. November nicht gegeben hätte.
Mit der friedlichen Revolution in der DDR erfüllte sich das Versprechen des 17. Juni und zurecht wird kritisiert, dass dieser Feiertag zugunsten des 3. Oktober abgeschafft wurde. Damit wurde ja nicht nur das Datum 17. Juni durch den 3. Oktober ersetzt. Nein, es wurde auch das Gedenken verlagert: Weg von Mut und Freiheitsliebe Hunderttausender, hin zu den paar Männern - und es waren wirklich nur Männer - die glaubten, mit ihrer Unterschrift Geschichte gemacht zu haben.
Den 1. Mai allerdings für den 17. Juni einzutauschen ist eine absurde Idee. Zunächst Herr Lindner, etwas mehr Bescheidenheit. Schließlich war es die FDP, die als Regierungskoalition zusammen mit der CDU beschlossen hatte, den 17. Juni abzuschaffen. Wie wenig Sie sich zügeln können, zeigt sich auch daran, dass Sie selbst bei einem Ereignis wie den 17. Juni offenbar nicht Ihren Hass auf die Gewerkschaften verbergen können. Den Tag der internationalen Arbeiterbewegung zugunsten des 17. Juni einzutauschen - ein Kämpfer wie Heinz Brandt würde sich im Grab herumdrehen - ist eine absurde Idee.
Eher ist dem Sachbuchautor über den 17. Juni, Sascha Kowalczuk, zuzustimmen: Man kann den 18. März, den 17. Juni, den 9. Oktober oder den 9. November zum Feiertag der demokratischen Emanzipation in Deutschland machen. Alle diese Daten sind besser geeignet als der 3. Oktober!
Anrede,
Die Erklärung zum 17. Juni 1953 war auch oder wegen des Abstands von 50 Jahren ein schwieriger Prozess. Der historischen Bedeutung wird der Konsens aller fünf Fraktionen allemal gerecht. Ich möchte Sie bitten, der gemeinsamen Erklärung zum 50. Jahrestag des 17. Juni zuzustimmen.